Seite:Wilhelm Löhe - Epistel-Postille.pdf/313

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

übereinstimmt, so findet man in der letzteren doch nichts, was der richtigen Deutung des Textes im Allgemeinen widerspräche. Kann man sich auch nicht denken, wie man die eignen Zungen der Gläubigen, welche doch hinter dem Zaun der Zähne liegen, beim Reden hätte feurig und zertheilt sollen sehen können; ist es weitaus das einfachere und leichtere, sich erscheinende, feurige, getheilte Zungen zu denken, welche sich auf die Häupter der einzelnen Jünger niederließen, so ist doch in beiden Fällen von Feuer, von Zungen, von Zertheilung der Zungen die Rede und vom Niederlaßen auf die Häupter der Einzelnen. Feuer aber ist wie der Wind ein Symbol des heiligen Geistes, und wenn man beim Winde mehr an die eilende Bewegung des Geistes vom Himmel zur Erde und über die Erde hin denkt, so erinnert das Feuer mehr an Licht und Wärme, an die den Widerstand zerstörende, die Welt mit Leben füllende Wirkung des Geistes Gottes. Die Zungengestalt deutet darauf hin, daß der heilige Geist durch Zungen alles wirken wolle, was mit Wind und Feuer angedeutet ist. Die Theilung der Zungen offenbart, daß er sich der Zungen aller Völker bedienen wolle, und wenn sich der Geist Gottes sichtbar, also in seinem Symbole, der feurigen Zunge, auf die Jünger niederließ, so deutete das an, daß er seine Wirksamkeit zuerst bei ihnen und durch sie, durch ihre Zungen beginnen wollte. Nachdem wir uns diesen Vers zurechtgelegt haben, wiederholen wir billig: Wie mag der Schall, der vom Himmel kam, und dazu die himmlische Erscheinung die Jünger ergriffen haben! Kaum aber können wir uns diesem Gedanken hingeben, kaum ist es auch nöthig, da uns ja der folgende Vers auf die in dem Ausruf verborgene Frage eine Antwort gibt, welche unser Denken und Ahnen übersteigt. Es ist ja auch für eine natürliche Wirkung des Wunders, für eine bloß psychische Ergriffenheit fast kein Raum gelaßen, da uns der nächste Vers von einer schnellen unaufhaltsamen, übernatürlichen Wirkung berichtet, und uns leuchtend in die Augen springt, daß in den Geistern und Herzen der Jünger alles das vollzogen wurde, was die den Seinen vergönnte göttliche Offenbarung andeutete. Der vierte Vers spricht im engsten Zusammenhang mit dem dritten: „Und sie wurden alle zumal heiligen Geistes voll und fiengen an mit andern Zungen zu reden, je nachdem der heilige Geist ihnen gab auszusprechen.“ Da haben wir also eine mächtige Wirkung des heiligen Geistes in den Gläubigen und aus ihnen. Sie wurden nicht bloß leere Instrumente des Geistes, wie etwa die Posaune vom Hauch des Menschen durchweht wird, ohne daß derselbe in ihr bleibt, sondern sie selbst, ihre Geister und Seelen, wurden innerlich angethan, der göttlichen Wirkung voll, und aus der Fülle und dem Reichtum des Innern heraus redeten die Zungen. Das Licht erleuchtete sie und gab ihnen selbst alle seine Wirkung, dann erst drang es aus ihnen hervor. Der zertheilten Zungen Gewalt zeigte sich in dem Sprechen von mancherlei Sprachen, welche sie zuvor nie gelernt hatten, und der heilige Geist gab einem jeden von ihnen bedeutungsvoll seine besondere Sprache zu reden. Dies Zungenreden ist allerdings im Grunde kein anderes, als das, von welchem der heilige Paulus in seinen Briefen spricht. Es ist ein Zungenreden, ob ich mit Menschen- oder mit Engelzungen rede, ob jemand da ist, der mich versteht oder nicht, ob ich selbst in meiner Schwachheit vermag, dem eilenden Flug des Geistes und dem fremden Worte zu folgen, oder nicht. Hier aber in unsrem Kapitel hat das Zungenreden eine andere Absicht als z. B. 1 Cor. 12 und 13. Hier wird mit fremden Zungen geredet, damit die herbeieilenden, allen Zungen und Sprachen angehörigen Zuhörer merken sollen, daß die großen Thaten Gottes in ihren und allen Zungen und Sprachen verkündet und alle Völker der Ehre Gottes voll werden sollen. Im Corintherbriefe aber wird durch das Zungenreden nur mehr angedeutet, wie die menschliche Fähigkeit durch den göttlichen Geist erweitert, erhoben, zu einem Verständnis und einer Gemeinschaft aller Völker und ihrer Sprachen erzogen werden sollen. Dabei dürfen wir uns auch schwerlich denken, daß die Glieder der heiligen Pfingstgemeinde die Fähigkeit bekommen hätten, ständig und für immer in mancherlei Sprachen zu reden, so daß etwa ein jedes, zu welchem Volk es auch gekommen wäre, sich begabt gefühlt hätte, mit deßen Sprache zu reden. Davon sagt uns die Schrift und das Altertum nichts; es ist und bleibt das Zungenreden auch für die apostolische Zeit etwas Außerordentliches, vorübergehend, in den Stunden der Andacht und besonderen Heimsuchungen Erscheinendes, und selbst den Aposteln blieb nach dem Zeugnis des Altertums im fremden Lande und unter dem fremden Volke nichts

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 305. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/313&oldid=- (Version vom 1.8.2018)