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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Er nicht eben sowohl als in den vierzig Tagen zwischen Ostern und Himmelfahrt an vielen Zeichen als gegenwärtig erkannt würde. So feiern wir also am Tage der Auffahrt JEsu nicht bloß Seine Inthronisation auf den Stuhl der göttlichen Macht, auch nicht bloß Seine himmlische Thätigkeit als Hoherpriester, sondern auch den Beginn Seines bischöflichen Amtes auf Erden und den Beginn der seligen Führung Seiner Kirche durchs Thränenthal zu der ewigen Heimath.

 Dies alles, meine lieben Brüder, so wenig auch die schwachen Worte der großen Sache entsprechen, ist dennoch Grundes genug, zu sagen, daß die Himmelfahrt JEsu der Eingang sei in Sein eigenes allerhöchstes Glück. Wie groß ist der, der auffährt zu Seiner ewigen Herrlichkeit, aber auch wie selig ist Er! Niemand ist größer als Er; es ist aber auch niemand seliger als Er. Es kann ja freilich niemand seliger sein, als er nach der Kraft und Macht seines angeschaffenen Wesens das Glück des ewigen Lebens faßen und tragen kann. Wenn es einen seligen Wurm gäbe, so würde er eben so selig sein, als er es vermöge seiner Natur sein könnte; in dem seligen Leben ist alles so selig, als es zu sein vermag, aber es mag dabei gehen, wie mit den Waßersammlungen, die Gott auf Erden gemacht hat: Alle faßen sie Gottes Waßer, jede so viel als sie kann, aber der See faßt mehr als der Teich und der Ocean mehr als der See; ein Element ist es, das in allen ruht, aber nicht ruht in einer so viel wie in andern. So sind alle Seligen selig, aber je nach der Macht und Anlage, die einem jeden gegeben ist, faßt der eine die Seligkeit mehr als der andere; es gibt keine Stufen der Seligkeit, alle sind gleich selig, dennoch aber ein jedes nach dem Maße seiner Fähigkeit. Das Maß aber unsers HErrn in Seiner Auffahrt ist ein wie großes, ja unermeßliches. Sein Leib, Seine Seele, Sein Geist verbunden mit und durchströmt von der ewigen Gottheit, faßet die Herrlichkeit der ewigen Seligkeit mehr, als alle andern Wesen. Herrlicher als alle andern, ist Er auch so selig, daß niemand unter allen andern Creaturen die klaren Tiefen Seiner Seligkeit auch nur durchschauen könnte. In diese Seligkeit aber ist Er am heutigen Tage eingegangen und Sein Himmelfahrtstag ist, wie gesagt, auch der Eingangstag zu Seiner ewigen Seligkeit.

 Mit dieser Erinnerung, meine lieben Brüder, schließen wir die Betrachtung der Himmelfahrt des HErrn. Als der HErr auffuhr, da sahen Ihm Seine Jünger staunend nach, und ihre Blicke hiengen auch da noch an den obern Regionen, als ihnen der Gegenstand ihrer Bewunderung durch die Wolken des Himmelfahrtstages bereits entzogen war. Aehnlich könnte es unserer Seele gehen, wenn sie die Bedeutung der Himmelfahrt betrachtet und den HErrn in Seiner Heimfahrt innerlich begleitet hat. Von diesem Wege in die Höhe kehrt der anbetende Gedanke nur langsam zurück. Es merkt sich, daß das eigentlich der Heimweg ist; wer den einmal betreten und kennen gelernt hat, der kehrt ungern zur Erde zurück, selbst wenn Engel winken. Den heiligen Aposteln mußte die sichtbare Auffahrt JEsu trotz dem, daß der HErr sie schon mehrfach darüber unterrichtet hatte, überaus erstaunenswerth und überraschend sein. Vor wenigen Minuten stand Er noch in ihrer Mitte und redete zu ihnen, nun aber ist Er ihren Augen entzogen, nicht durch Tod und Grab, sondern durch eine Himmelfahrt. Das war ein ganz anders Abschiednehmen, als am Kreuze auf Golgatha, mußte auch einen ganz andern Eindruck auf sie machen, – einen nicht minder gewaltigen und starken, aber einen der Art und dem Gefühle nach, das gewirkt wurde, ganz verschiedenen. Himmlisch, freudig, selig, hingerißen, muthig mußten sie sich fühlen, eine Lust mußte in ihnen erwacht sein, denselben Weg zu nehmen; dennoch aber fehlte ihnen der leichte Flug, die Kraft, sich zu erheben, nur ihre Seele und eine kleine Weile ihr Auge konnte Christo folgen. Sie sollten nicht damals schon den Weg in die ewige Heimath wirklich und wesentlich betreten; ihr irdischer Lauf war noch nicht geschloßen, im Gegentheil, die herrlichste und gesegnetste Strecke desselben lag noch vor ihnen. Nicht der aufgefahrene Christus, sondern Der, welcher ihnen Seine Gegenwart für ihre Wirksamkeit verheißen hatte, sollte ihnen zunächst vor Augen schweben. Ihre Seele sollte sich dem heiligen Berufe zuneigen, der ihnen geworden war und sich an die Erde gewöhnen. Ihr Herz sollte voll Freude und Begier an Jerusalem, Judäa, Samaria und die Enden der Erde denken, ihr Fuß sich zu fernen Wegen, ihre Zunge zur evangelischen Verkündigung stärken, zur mühevollen Arbeit sollten sie sich rüsten, der Aufgefahrene aber sollte von nun an ihre Hoffnung, Sein Angesicht und Sein Anschauen ihr Heimweh

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 294. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/302&oldid=- (Version vom 1.8.2018)