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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Ende der Erde dringen müße, ehe des Vaters Zeit und Stunde erscheinen konnte, Seinen Sohn zum zweiten Mal zu senden und das Reich Israel aufzurichten; ja es gehe nicht einmal aus dem Texte hervor, daß unmittelbar nach der Ankunft des Zeugnisses JEsu am Ende der Erde auch alsbald die Herrlichkeit des Endes hereinbrechen müße, zwischen dem vollendeten Zeugnis JEsu und dem Beginnen des Endes könnten lange Zeiten liegen, der HErr habe genau genommen nichts weiter gesagt, als daß jedenfalls vor vollendetem Zeugnis Seine Wiederkunft nicht eintreten könnte. Allein diese ganze Einwendung trägt so, wie sie lautet, das Gepräge unserer Zeit an sich. Denn einmal ist es allerdings ganz richtig, daß zwischen dem vollendeten Zeugnis und der Wiederkunft Christi, dem Wortlaut der heiligen Schrift nach, lange Zeiten mitten inne liegen können; andererseits aber kann es auch scheinen, wie wenn die Vollendung des Zeugnisses in eine viel spätere Zeit, als die apostolische zu setzen wäre, wie wenn bis zur Stunde das Zeugnis nicht vollendet wäre. Allein die ersten Christen konnten einmal nicht wißen, was bei uns freilich jedes Kind wißen kann und auch weiß, daß das Zeugnis so lange fortgehen werde, so wie ihnen auch der Gedanke nicht kommen konnte, daß zwischen dem Zeugnisse und dem Ende noch lange Zeiten sein könnten. Dagegen aber wußten und betonten sie etwas, was wir kaum wißen, geschweige betonen wollen: nämlich daß ja der HErr zunächst nicht zu der Kirche im allgemeinen, sondern zu Seinen Aposteln persönlich sagte, sie sollten Seine Zeugen sein bis ans Ende der Erde, daß die, welche bis zum Ende der Erde zeugen sollten, keine andern sein konnten, als die, welche in Jerusalem zeugen sollten, daß der HErr in unsrem Verse Anfang und Ende der apostolischen Wirksamkeit bezeichnet habe. Sie glaubten und wußten, daß die apostolische Wirksamkeit von dem Centralpunkt Jerusalem zu der Peripherie des Endes der Erde mit einer großen Kraft und Schnelligkeit vorwärts drang. Sie beurtheilten auch wohl die Wirksamkeit der Apostel nicht nach deren Füßen, sondern nach ihrer Stimme: so weit ihre Stimme und ihre Lehre vorwärts drang, so weit sahen sie die Apostel selber vorwärts gedrungen, so wie man an allen Orten, bis zu welchen der Schein der Sonne dringt, die Sonne gegenwärtig, kräftig und wirksam erkennt. Ganz in diesem Sinne sagt ja auch der Apostel Paulus Röm. 10, 18, es sei der Schall der Wahrheit über die ganze Erde hinausgegangen und ihre Worte bis an die Grenzen der bewohnten Welt. Wenn nun aber die ersten Christen davon eine Kenntnis hatten, die wir nicht haben können, und eine Ueberzeugung, zu deren Begründung uns die geschichtliche Einsicht fehlt, so konnten sie allerdings ganz leicht auf den Gedanken kommen, die Zeit des Zeugnisses sei geschloßen, oder könne wenigstens geschloßen sein, die Wiederkunft Christi stehe vor der Thür. Haben sie nun auch in dieser Vermuthung geirrt, so waren sie doch so richtig und richtiger daran, als wir, wenn wir nach achtzehnhundert Jahren den Schluß des Zeugnisses JEsu in eine weite Ferne stellen und eben damit auch die Wiederkunft des HErrn. Wenn die ersten Christen nach ihrer Kenntnis der apostolischen Wirksamkeit denken konnten, das Zeugnis sei bereits zu Ende, wie viel mehr werden wir nach achtzehnhundert Jahren die Möglichkeit des Endes und der Nähe der zweiten Wiederkunft Christi zugeben müßen. Ist es uns auch eine reine Unmöglichkeit, geschichtlich nachzuweisen, wie weit in jedem Jahrzehnt oder Jahrhundert sich die Stimme der Predigt verbreitet habe, so können wir uns doch selber leicht sagen, daß von dem, was je und je geschehen, gar vieles zu unsrer Kenntnis nicht gekommen, daß die Geschichte nicht plan und vollständig vor uns liegt und wir aus dem wenigen, was wir wißen, keine sicheren Schlüße ziehen können. Der Fortschritt der Zeit und der Gnade Gottes und unsere große Unwißenheit kann uns die Möglichkeit eines nahen Schlußes des Zeugnisses und der vorhandenen Wiederkunft JEsu Christi sehr wohl lehren und uns anleiten, wie die Knechte täglich zu warten auf den Anfang des Endes und auf alle die Dinge, durch welche sich unsere Weltperiode vollenden soll. Nicht daß wir berechneten, was wir nicht berechnen können, nicht daß wir wüßten oder lehren könnten, was uns verborgen ist, aber daß wir die Möglichkeit erkennen und die Lampen bereit halten, dem Bräutigam entgegen zu gehen.

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 Das ist es, meine lieben Brüder und Schwestern, was ich als vierte Bemerkung zu dem vorbereitenden Theile unsres Textes hervorheben wollte. Hiemit treten wir zum zweiten Theile oder zur Beschreibung der Himmelfahrt

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 291. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/299&oldid=- (Version vom 1.8.2018)