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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

daß Jakobus mit sich oder andern heiligen Schriftstellern in Widerspruch geräth? Empfiehlt sich dir diese Deutung nicht durch ihre Richtigkeit, und wird dir nicht auf diese Weise in unserm Verse die Liebe zu Wittwen und Waisen und die Abgeschiedenheit von der eitlen, thörichten, widerwärtigen Welt als recht lieblich und nachahmenswerth hingestellt? Da sind christliche Wittwen und Waisen: die elende Welt hängt sich an die Verlaßenen, um sie zu verderben, sie werden verfolgt und unterdrückt, ihr Recht gilt nicht, ihre Schwachheit und Ohnmacht lädt den Bösewicht zur frevlen Gewaltthat ein. Du aber bemerkst es, du springst ihnen bei, wirst ihr Anwalt und Helfer, ihr Vater und Bruder, dienst ihnen mit Freuden und Aufopferung, lebst für Wohlthat und scheidest dich dabei von allen Freuden und Sitten der Welt. Gewis, das ist ein herrliches Leben, von dem man sagen kann, es hat seinen Lohn in sich selbst. Wie befriedigend ist es, Gottes Wege zu gehen, und wie heiter macht das Bewußtsein, recht gethan zu haben! Dennoch aber übertrifft die Gewisheit, daß Gott unser armes Thun annimmt und für rein erkennt, alle natürliche Gewißensruhe, und bis zur tiefen Beugung und Beschämung kann einen Christen, der den reinen und unbefleckten Gottesdienst übt, das gnadenvolle Urtheil des Allerhöchsten bringen.

 Nehmet, meine Brüder, am Schluße den Gedankengang des heiligen Jakobus wahr. Es ist, wie wenn in unsrem Texte vor den Augen des heiligen Schriftstellers eine versammelte Gemeinde wäre. Da sieht er vergeßliche Hörer, Leute, die in die Kirche gegangen sind, um Gott mit ihrer Gegenwart zu fröhnen, die für den Augenblick schweigen, die aber kaum die Versammlung geschloßen haben werden, so überlaßen sie sich wieder zügellosem Geschwätz und Zungensünden, so mengen sie sich wieder unter die Welt und ihre Kinder und beflecken ihre armen Seelen. Dagegen aber erkennt Sein leuchtendes Auge in der Versammlung auch andere: Sie hören mit allem Fleiße das göttliche Wort, sie ruhen nicht bis sie hindurchgedrungen sind und erkannt haben das vollkommene Gesetz der Freiheit. Einerseits voll demüthiger Selbsterkenntnis, andrerseits voll Trieb und Lust zu guten Werken befleißigen sie sich der Heiligung: ihr Wort wird sparsam, gerecht und milde, ihre Füße eilen den Wittwen und Waisen zu Hilfe, ihr Leib und ihre Seele bleibt frei von aller Lust der Welt. Zweierlei Klaßen von Gemeindegliedern: zu welcher von beiden gehörst du? In der Kirche hören und nichts lernen; auf dem Heimweg ungezügelt schwatzen; am Nachmittag und Abend dem Geize dienen oder der Welt nachlaufen: das ist die Sonntagsgeschichte der allermeisten unter euch, welche der Apostel nicht klarer hätte voraussehen und weißagen können. Das ist der Gottesdienst der Meisten, und eben deshalb ist er eitel, Selbstbetrug, Verdammnis. Wenige fleißigen sich in der Kirche zum Gesetz der Freiheit hindurchzudringen; wenige streben nach der Kirche, nach Wahrhaftigkeit, Güte und Liebe im Urtheilen, wenige widmen ihre freie Sonntagszeit dem Dienste der Elenden und Armen und halten sich frei von der Welt. Also wenige haben wahres Sonntagsleben und Sonntagsfreude; wenige kennen das pfingstmäßige Frühlingsleben der Heiligung und guter Werke, wenige sind selig in ihrer Sonntagsfeier in- und außerhalb der Kirche. Sie leben nicht im Gebete, wie das heutige Evangelium will, und nicht im heiligen Dienste Gottes, wie die Epistel befiehlt. Traurige Wahrnehmung, jammervoller Zustand, und doch ein Zustand, der gar nicht nöthig wäre, der auch nicht bleiben muß, zu deßen Aenderung Gott und Sein heiliges Wort, Sein guter Geist und deßen annahende Kräfte jedes Herz einladen. Wendet euer Angesicht zu Ihm und laßt euch faßen, widerstrebt nicht dem heiligen Geist, laßt euch vor allen Dingen zu tiefer Erkenntnis Seines Wortes leiten, so wird Sein Wort allmählich euer Wort regieren und anstatt der sündigen Triebe, die euch zur Welt hin zwangen, eine heilige Lust und Freude am Guten in euch wachsen, eine Freude am HErrn selbst, die eure Stärke werden, euch innerlich von der Welt scheiden und euch zu Helfern und starken, segensreichen Boten Gottes unter den Elenden machen könnte. Es ist um ein Kleines zu thun. Widerstrebt nicht, so wird euch der Geist des HErrn ergreifen und andere Leute aus euch machen, ihr aber werdet dann hingehen und thun, was euch zu Handen kommt und merken, daß Gottes Werke leicht sind, gute Werke eine hebende Kraft auf den Menschen üben, daß sie mehr in uns gethan werden, als von uns. Zu solcher seligen Erfahrung leite euch der HErr in dieser seligen Frühlingszeit der Pfingsten. Amen.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 287. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/295&oldid=- (Version vom 1.8.2018)