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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

gerechten Maßes sieht und hält, sondern auch geneigt ist, Gaben, Kraft, Leistung und Lebensstellung jedes anderen im Lichte Gottes zu erkennen, einen jeden darnach zu schätzen und ihm mit derjenigen Achtung zu begegnen, die ihm gebührt. Diese Tugend spricht sich in dem Textesverse aus, in welchem wir lesen: „Thut Ehre jedermann, habt die Brüder lieb, fürchtet Gott, ehret den König.“ Hier sehen wir, wie einem jeden in der Pilgerschaft und Fremdlingschaft des Lebens sein Maß von Ehre zuerkannt wird, dem König aber das größte, wie den Genoßen desselbigen Glaubens, den Brüdern, die Liebe, dem HErrn, dem lebendigen Gott aber die Furcht zugetheilt wird. Es ist mit diesen Worten nicht alles andere ausgeschloßen, was die heilige Schrift sonst noch gegenüber Gott und dem Nächsten von uns verlangt. Es versteht sich von selbst, daß wir Gott nicht allein fürchten, sondern auch lieben, die Brüder nicht bloß lieben, sondern auch ehren, alle Menschen und insonderheit den König nicht bloß ehren, sondern auch lieben, in der oder jener Beziehung wohl auch fürchten sollen; aber unser Text zeigt eben den Fremdlingen und Pilgrimen, was in jedem Verhältnis das Hervorstechende und Charakteristische sein soll. Ehre und Werthschätzung gehört einem jeden vom Bettler am Weg bis zum Kaiser auf dem Thron, die Ehre in ihren verschiedenen Abstufungen soll keinem entzogen, jedem gegeben werden; die Liebe bewahren wir den Brüdern und die Furcht durchdringt uns, soll uns durchdringen, so oft wir Gottes gedenken. Nach allen Seiten hin allen das Rechte zu geben, das ist die Forderung des Apostels an die Pilgrime und Fremdlinge. Unter einander in Liebe zusammengeschloßen, durch Liebe zu einer heiligen Schaar vereinigt, voll Furcht vor dem Gott, zu Deßen ewiger Stadt man gelangen will, nach Deßen Angesicht man schreit, wie der Hirsch nach frischem Waßer, – voll Willens und Bereitschaft, auch einem jeden Weltkind mit Ehrerbietung zu begegnen, so wandelt Gottes heilige Schaar durch die Fremde der Heimath zu. Es ist etwas Außerordentliches, daß die Kinder Gottes mit der Welt und ihren Kindern keine Gemeinschaft haben, sich mitten unter ihnen in der Fremde wißen und fühlen, und doch auch jedes Weltkind nach seinem Maße ehren sollen. So darf man also niemand verachten, sondern wir sind gedrungen, einen jeden unsrer Nächsten zu beachten und ihn nach seinem Maße zu meßen, und es ist also nicht genug, wenn die Schaar der Erlösten in eng geschloßenen Reihen sich irgendwie durch die Welt, wie durch ein feindliches Heer hindurch schlägt, und also bis an die Pforten der Ewigkeit kommt, sondern die Feinde müßen geachtet, geehrt und beehrt, und allezeit muß an ihnen erkannt und unterschieden werden, was sie nach Gottes heiligem Willen sind und sein sollen, und was sie durch ihre eigne Schuld und Sünde geworden sind. Auch jedem Weltkind wohnt, so lang es auf Erden ist, doch etwas Göttliches ein, das ein Pilgrim Gottes finden und ehren soll, und das eben ist die Höhe der geistigen und geistlichen Ausbildung eines rechten Pilgrims, sich von der Welt unbefleckt und dennoch so zu verhalten, daß auch ein jedes Weltkind von dem Benehmen der Kinder Gottes den Eindruck bekommt, daß es beachtet, erkannt, geehrt und eben damit auch geliebt, eingeladen und berufen sei, von der breiten Straße auf den schmalen Weg zu treten. Denkt euch nun, meine lieben Brüder, die Schaar der Christen, reines Herzens, voll Gehorsam gegen alle Obrigkeit und Ordnung, voll heiliger Bescheidenheit und Beachtung aller Unterschiede unter den Menschen, voll Liebe zu den Brüdern und voll Gottesfurcht, so habt ihr damit ohne Zweifel ein wunderschönes Bild von einem Pilgrim und Fremdling Gottes, zu deßen Vollendung nun wohl nur noch eine Tugend, nemlich die der Geduld und Beständigkeit, in diesem ganzen Leben und Wesen hinzugethan werden müßte.

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 Wenn ich von der Geduld des Pilgrims und Fremdlings Gottes noch einige Worte anfüge, so weiß ich es wohl, daß diese Tugend in unserm Texte nicht wörtlich genannt ist, aber andererseits sehe ich sie doch im ganzen Texte überall, und zwar nicht bloß deshalb, weil keine Tugend ohne Geduld eine Tugend sein und bleiben kann, sondern auch deshalb, weil so manches im Texte erwähnt ist, was ich nur als Aeußerung der Geduld zu faßen vermag. Schon wenn von einem Wandel der Pilgrime unter den Heiden die Rede ist, der schön und edel sein soll, so schließt dies Wort „Wandel“ die Geduld mit ein. Wer kann sich den Wandel als etwas Vorübergehendes denken? Oder wenn beim Gehorsam gegen jede menschliche Ordnung gesagt ist, es sei der Wille Gottes, daß Gottes Pilgrime auf diese Weise die Unwißenheit

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 271. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/279&oldid=- (Version vom 1.8.2018)