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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

zu Gott das Uebel verträgt und leidet das Unrecht. 20. Denn was ist das für ein Ruhm, so ihr um Missethat willen Streiche leidet? Aber wenn ihr um Wohlthat willen leidet und erduldet, das ist Gnade bei Gott.


 MEine lieben Brüder, ich bin gewohnt, im Eingang dieser Vorträge über die sonn- und festtäglichen Episteln den Zusammenklang der jedesmaligen Epistel mit dem Evangelium nachzuweisen, und vielleicht habt ihr euch selbst mit mir daran gewöhnt. Auch heute kann und will ich es nicht unterlaßen, meiner Gewohnheit zu folgen. Weil es mir aber gerade diesmal in die Erinnerung gekommen ist, daß vielleicht mancher unter euch mir meine desfalsige Bemühung gerne erließe und froh wäre, schon um der Kürze willen des Vortrags, welche dadurch befördert würde, wenn ich immer gleich zur Darlegung und Erläuterung des Textes schritte, so möchte ich wenigstens einmal hier öffentlich vor euch bekennen, daß ich doch einigen Werth auf die Beibehaltung und Durchführung meiner Gewohnheit lege. Ich weiß ja freilich, daß am Ende gar nicht viel darauf ankommt, die Textwahl der alten Kirche zu rechtfertigen. Auch wenn es nie bestimmte und jährlich wiederkehrende Lectionen aus dem göttlichen Worte gegeben hätte; auch wenn man der Reihe nach die Schrift läse oder je nach Willkühr des Predigers, würde sich das göttliche Wort an den Herzen der Hörer doch nicht unbezeugt laßen. Allein da man nun doch im Grunde Texte haben muß, und sich das Lesen nach der Reihe ohne Rücksicht aufs Kirchenjahr ebenso wenig empfiehlt, als eine willkührliche Auswahl des Predigers, so ist es doch für den Kirchgänger ein kleiner Gewinn, oder wenigstens eine Annehmlichkeit, zur Ueberzeugung geführt zu werden, daß die alte Kirche die Texte weise wählte, und daß man sich ja recht langsam entschließen müße, die alten Texte aufzugeben und irgend eine andere Sitte des kirchlichen Bibellesens anzunehmen. Ich möchte schier behaupten, daß es Mangel an Einsicht und Bildung ist, die uralten Texte zu verlaßen, und umgekehrt, daß sich die Treue im Aushalten und achtsamen Hören derselben belohnt. Es ist ja nur Schrift und Gottes Wort, was euch nach der alten Ordnung gelesen wird, aber durch die Bedeutsamkeit der Auswahl kommt man zur Einsicht, daß sich mit der Stimme des göttlichen Wortes bei den Lectionen auch eine Stimme der Kirche vereinigt, daß die längst hingegangenen Geschlechter uns durch den Gebrauch ihrer Lectionen in ihre selige Gemeinschaft ziehen, und die Erkenntnis ihres Gedankengangs bei der Textwahl diese Gemeinschaft nur desto vollständiger und inniger macht. Laßt uns daher bei unsern alten Lectionen bleiben, neben welchen sich in allen Jahrhunderten bis zu dieser Stunde nicht eine einzige andere Textesreihe hat halten können und wohl auch in der Zukunft wird halten können. Bleiben wir bei den alten Texten und scheuen wir dann auch die Mühe nicht, durch Gegeneinanderhaltung derselben den Sinn der Wahl zu erforschen, und uns dadurch desto freudiger und lustiger zur Betrachtung der Texte selbst zu machen.

 Das Evangelium des heutigen Tages ist wie fast alle Evangelien zwischen Ostern und Pfingsten aus dem Evangelium Johannis, und zwar aus jenen wunderschönen letzten Reden JEsu Christi genommen, welche Er an Seine Jünger vor Seinem Scheiden gerichtet hat. In der Wirklichkeit fielen diese Reden fast sämmtlich in die Nacht, da der HErr verrathen ward, dagegen werden sie im Kirchenjahre nicht in der Passionszeit, sondern in den freudenvollen Tagen der Pfingsten, das ist in jenen fünfzig Tagen gelesen, da man der Verklärung Christi und Seines Heimgangs zu dem ewigen Vater gedenkt. Der HErr war in der Nacht vor Seinem Leiden so sehr des Gedankens voll, daß Er nun in der tiefsten Tiefe Seiner Erniedrigung verweile, von nun aber Sein Weg sich aufwärts lenke, daß Seine Reden gar nicht passionsmäßig klangen, sondern vielmehr ganz die Natur der fünfzig Tage nach Ostern, der Verklärung und des Heimgangs zur ewigen Glorie an sich tragen. Wer sich davon überzeugen will, der darf nur in das heutige Evangelium sehen. „Ueber ein Kleines, so werdet ihr Mich nicht sehen, spricht der HErr, und aber über ein Kleines, so werdet ihr Mich sehen, denn Ich gehe zum Vater." Was heißt das anders, als: über ein Kleines liege Ich im Grabe, da sehet ihr Mich nicht, und aber über ein Kleines, da stehe Ich wieder auf und fahre zum Himmel, da sehet ihr Mich wieder. Wie der Israelite beim ersten Passahfeste in Egypten das Passahlamm als ein Weggehender

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 265. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/273&oldid=- (Version vom 1.8.2018)