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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

ihm, in seinem Herzen keime und sproße die Liebe; sondern streng ist er, ein Eiferer, ein anmaßender Mensch, voll Priesterstolzes, welcher das Gelüsten in sich hegt, die alte Priesterherrschaft der römischen Kirche auch in die protestantische wieder einzuführen. Die, an welchen er in großer Verlegenheit sein bischen Zucht zu üben sich gezwungen fühlt, hätten gute Lust, ihn zu verklagen, wenn sie nur dazu genug gutes Gewißen hätten, wenn nur nicht da drinnen eine Stimme zu laut für den armen Pfarrer und sein Thun spräche. Manche klagen dennoch: die Zucht der Liebe wird zur Streitsache, etwa zwischen einem Trunkenbold und dem Pfarrer, zwischen einer Hure und dem Hirten der Gemeinde. Und was sagt denn die Gemeinde? Erwacht und merkt sie, daß es unrecht ist, den Pfarrer allein zu laßen in seinem Streite; tritt sie auf seine Seite und billigt wenigstens durch ihre allgemeine Zustimmung die Liebesübung, welche sie selbst unterläßt? Ihr wißt es selbst, meine lieben Brüder, wie es geht und daß es nicht so ist, daß in den meisten Gemeinden der Pfarrer unter solchen Umständen ganz einsam steht. Was kümmert sich die Gemeinde um die „Pfaffengeschichte“: Spottvögel und die Kinder Schadenfrohs allenfalls legen sich drein, lästern den Pfarrer, steifen den in Zucht genommenen offenbaren Sünder in seiner Unbußfertigkeit; mit Hohn und Spott, mit gleißnerischer, beißender Rede gießt man Oel in’s Feuer und sorgt dafür, daß aus einer Sache, welche im eigentlichsten und edelsten Sinne Gemeindesache sein sollte, eine recht jämmerliche Parteisache und ein persönlicher Prozeß wird. So steht’s, ja so steht’s, wo es noch gut steht, nemlich in den wenigen Landgemeinden, wo die Diener Gottes noch Muth und Selbstverleugnung genug haben, dem Greuel unchristlicher Zuchtlosigkeit ein wenig zu steuern. Und nun erst da, wo es gewöhnlich – Gott segne die Ausnahmen! – wo es gewöhnlich am schlechtesten steht, in den Städten, mein’ ich, mit ihren frechen Haufen zuchtlosen Pöbels aus vornehmen und geringen Ständen! Ha, wie sich die empört, im Innersten verletzt fühlen, wenn jemand es wagen will, an ihnen, am Pöbel des neunzehnten Jahrhunderts, dem unwißenden, in allem, was zum ewigen Leben gehört, völlig unerfahrenen, von der Sünde geknechteten und geschleppten, die heilige Pflicht der Bruderliebe strafend zu erfüllen! Was ist da zu machen? Spott und Schmach über die, welche Angesichts dieser Massen vom Netz reden, das auch faule Fische fäht, –vom Acker, der auch Unkraut hat, – vom hochzeitlichen Vorhof, wo auch Heuchler und Maulchristen zu finden sind. Das heißt in der That aus großer Verlegenheit blind Gottes Wort wider Gott selbst deuten und misbrauchen. Nein, nein, so hat Christus Seine Kirche nicht gewollt, so will Er sie auch nicht laßen. Wo der Sauerteig den ganzen Teig durchdrungen hat; wo es – ich sage, in der Kirche, nicht in der Welt – zur Ausnahme geworden ist, daß jemand seine Seele davon bringt; wo die Gottlosen im Interesse der Zuchtlosigkeit die Beßeren, so zu sagen, in die Zucht nehmen, die Frommen mit Hohn und Schrecken niederhalten, daß auch sie es nicht mehr wagen, das Haupt aufzuheben und den Mund aufzuthun, sondern mit gebrochener Kraft unter der Masse stehen und froh sein müßen, wenn ihnen nicht die ganze Reinigkeit ihrer Absicht, ihr Wille, ihr Leumund beschmitzt und sie selbst als die „Heillosesten und Schlechtesten“ hingestellt werden: da ist’s nicht am Ort und an der Zeit, Christi gerechte Worte vom Netz und Acker und hochzeitlichen Kleide zur Decke zu nehmen; da muß man andere Worte Christi reden laßen, den Donner des heutigen Textes predigen und aufschreien zu Gott der Erbarmung, daß es anders werde. – Ach, Weh und Jammer! Gott helfe, sonst gibt es keine Hilfe! So hat ja der Sauerteig durchgedrungen, ein solcher Geist der Zuchtlosigkeit und Unzucht in Betreff aller Gebote ist herrschend geworden, daß auch die wenigen Versuche treuer, züchtigender Bruderliebe nicht gerathen können. So bewältigt und gebunden ist die Liebe selber, daß oft ihre wohlgemeintesten Erweisungen verkümmern, zu Zerrbildern und Karrikaturen der Bruderliebe werden, daß sich an ihnen Muth und Eifer zum Guten vollends bricht und verliert. – Ach, und wagen es einfache Christen, die nicht Pfarrer sind, die züchtigende Liebe zu üben: wie viel schaden dann selbst Pfarrer, wenn sie, vielleicht beleidigt durch den gerechten Vorwurf, der für sie in der Liebesäußerung von Gemeindegliedern liegt, von pharisäischem und Amtshochmuth aufgebläht, die armen Stümper und Humpler der Bruderliebe verkennen, mit plumpen Füßen auf ihre Werke treten, statt sich demüthig mit ihnen zu vereinigen und mit den armen Lahmen und Krüppeln JEsu den heiligen Kampf gegen das Böse

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 236. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/244&oldid=- (Version vom 1.8.2018)