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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

ich Ihm große Menge zur Beute geben, und Er soll die Starken zum Raube haben; darum, daß Er Sein Leben in den Tod gegeben hat, und den Uebelthätern gleich gerechnet ist, und Er Vieler Sünde getragen hat, und für die Uebelthäter gebeten.


 MEine lieben Brüder, in der ältesten Kirche las man Texte, wie bei uns; aus der Synagoge herüber verpflanzte sich diese Sitte. An die Lection schloß sich dann die Ermahnung des Bischofs an; auch andere durften unter Formen heiliger Ordnung reden; da gab es selige Unterhaltungen, oder wie man zu sagen pflegte „Homilien“ über das heilige Wort des HErrn. Heut aber muß ich euch gestehen, gar keine Lust zu einer Unterhaltung zu haben, keine zu einer Predigt, Auslegung oder Ermahnung, sondern ich möcht am allerliebsten vor dem Kreuze stehen, still betrachten, schweigend beten. Wenn irgend ein Tag die Kraft hat, die Seele des Menschen in stille Contemplation, in tiefe und anbetende Abgeschiedenheit zu versetzen, so ist es der heutige. Wo ist das Wort, wo die Betrachtung, welche für die Todesstunde JEsu angemeßen und ihrer würdig erfunden werden könnte? – Indes, es ist nun einmal in unserer Kirche Sitte, in öffentlicher Versammlung die Todesstunde JEsu zu feiern, und so will ich denn versuchen, eure Gedanken zu vereinigen und zu leiten, und wenn mir es nicht gelingt, so nehmt auch das für einen Beleg und Beweis für meine Behauptung hin, daß heut kein Tag ist zum Predigen und zum Reden. – Der heutige Tag hat eigentlich keine feststehenden Lectionen, man las oder sang auch bei unsern lutherischen Vätern die ganze Passion; man hatte Zeit dazu, weil man nicht predigte. Doch hat sich der euch verlesene, berühmte Abschnitt aus Jesaia anstatt einer epistolischen Lection so ziemlich eingebürgert und festgesetzt. Daher soll er auch in dieser Stunde unsre Gedanken leiten. Wir sind ja nahe bei der dritten Nachmittagsstunde und für sie paßt allerdings der Inhalt in seiner großartigen Zweitheiligkeit, in seinem Leide und in seiner Freude. Ihr werdet sagen: Also gibt’s heute am Charfreitag doch neben dem Leid auch eine Freude, weil der, den Gemeinden angenehmste Text aus Jes. 53 zwar in der ersten Hälfte voll Klage ist und voll Leid, in der zweiten aber voll Sieges und Freude! Auf diese eure Frage antworte ich in der Todesstunde JEsu bei sich senkendem Tage unbedenklich mit „Ja“. Ich las neulich, daß die alten asiatischen Christen bei ihrer Osterfeier von dem Gedanken durchdrungen gewesen seien, JEsu Tod sei aller unsrer Freuden Ursach, und daß sie deshalb auch den ersten Tag ihrer Passahfeier, den Todestag JEsu, nicht in purer Betrübnis und Reue hingebracht hätten. Das vermag denn auch ein Mensch, welchen die Bedeutung des Tages ganz in Contemplation dahin genommen hat, allmählich zu faßen. Am Morgen des Tages in der Kreuzigungsstunde, bei steigendem innern und äußern Leiden Christi, da kann man sich nicht darauf einlaßen, den Tod JEsu als Freudenquelle zu betrachten. Jetzt aber, zur Zeit der letzten Worte des HErrn und Seines Siegsgeschrei’s, zur Zeit, wo neben dem hohen Leide jene mächtige Erhebung der Seele JEsu hervortritt, welche geeignet war, dem Hauptmann die Ueberzeugung von der Gottheit JEsu beizubringen: in dieser Siegeszeit wächst und keimt die Ahnung, daß JEsu tiefes Leid ein Brunnen ist aller unsrer Freude. Und wenn nun bald diese Stunde gar vorüber ist, der Tod vorüber, dann sieht man bereits alles im Lichte der fröhlichen Zukunft an, und es geht einem, wie David dem König, nachdem der Sohn gestorben war, den seine Missethat getödtet hatte. Er stand auf und wusch sich und aß. So denken auch wir nach den letzten Todesaugenblicken JEsu, welchen unsre Schuld getödtet hat. Es ist ja dann gewonnen: Friede ist im Himmel, Ehre in der Höhe, und über die Welt hin breitet sich das wunderbare Licht ahnungsreicher Hoffnung und anbrechender ewiger Freuden. Also „Ja“, der Text hat statt mit seinem zweiten wie mit seinem ersten Theile.

 Doch laßt uns nun einmal die beiden Theile des Textes etwas genauer kennen lernen. Nicht bin ich der Meinung, mich auf alles und jedes in diesem Texte einzulaßen; ich will die Juden, ich will die ungläubigen und gläubigen Theologen, welche unsern Text anders auslegen, als der Diaconus Philippus auf der Straße von Gaza, da er neben dem Kämmerer der Königin von Mohrenland saß, ich will sie mit all ihren Deutungen vergeßen, all ihr Ding nicht widerlegen. Was für ein Charfreitagsgeschäft wäre das auch! Ich will mich kurz und anbetend durch

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/235&oldid=- (Version vom 1.8.2018)