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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

die Gestalt eines Knechtes und die gewöhnliche Erscheinung andrer Menschen an Sich nimmt. Nicht das ist die Meinung, daß Ihm die göttliche Gestalt und Gottesgleichheit genommen worden wäre, daß Er sie unfreiwillig hätte laßen müßen; mit nichten! Es ist Sein eigener freier Entschluß, die Ihm gebührende Herrlichkeit und Gottesgleichheit abzulegen. Zuweilen in Seinem wundervollen Leben tritt irgend eine That hervor, die auch über das Maß der Macht hinausgeht, welche dem unbefleckten Menschen JEsus Christus gebührt. Da greift Er nach der niedergelegten Gottesherrlichkeit und zeigt Seine Macht über Tod und Leben, und läßt einen Strahl Seiner Majestät auf uns fallen, damit wir sie desto leichter und lieber glauben. Im Allgemeinen aber und für gewöhnlich sehen wir in der Erscheinung des HErrn keine Gottesgestalt, sondern in der That Knechtsgestalt, Art und Weise gewöhnlicher Menschen. Mag man da auch das Wort „Knechtsgestalt“ blos als Gegensatz von „göttlicher Gestalt“ nehmen, und gleichbedeutend mit dem Ausdruck: „Er ward wie ein anderer Mensch“; mag der Mensch und seine Gestalt im Vergleiche mit der Gottesgestalt rein wie ein Sklave und wie Sklavengestalt erscheinen; mag Mensch und Sklave hier ganz gleichbedeutend sein, so kann doch die demüthige Entäußerung des Menschgewordenen kaum irgendwie stärker bezeichnet sein, als durch die Ausdrücke: „Knechtsgestalt, Sklavengestalt, Aehnlichkeit andrer Menschen“. Was uns also der sechste Vers im Herzen JEsu Christi gezeigt hat, das zeigt uns der siebente in Seiner irdischen Erscheinung, so wie sie von Kindesbeinen an in Seinem täglichen Leben hervor trat. Damit aber sind wir im Stufengang der Demuth JEsu Christi erst auf der zweiten Stufe angekommen. Der achte Vers des Textes führt uns zu der dritten. „An Gebärden als ein Mensch erfunden“, fährt der Apostel weiter fort, „erniedrigte Er sich selbst, indem Er gehorsam ward bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuze.“ Er verhielt Sich in Seinem ganzen Wandel wie ein Mensch, wie ein purer Mensch, der auf Gottesgleichheit und Gottesgestalt keinen Anspruch zu machen hätte. Er, der HErr unendlichen Lebens, hätte daran einen vollkommenen Beweis Seiner wunderbaren Demuth und Lust am Kleinen und Geringen gegeben, auch wenn Er nun nicht weiter gegangen wäre. Sah man doch für gewöhnlich Seine Herrlichkeit gar nicht, die Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater; war doch die Entleerung und Entäußerung bereits so vollständig, daß nicht bloß das Auge der Menschen, sondern auch der listige Blick der alten Schlange gar nicht im Stande war, heraus zu finden, daß dieser JEsus von Nazareth Gottes Sohn und Gott, der Erbe der ewigen Herrlichkeit war. Aber diese Entäußerung bis zur Knechtsgestalt ist ja weiter nichts, als die Vorstufe zur Erniedrigung. Die Entäußerung ist noch keine Erniedrigung, sondern sie bereitet den HErrn zur Erniedrigung vor. Die Erniedrigung aber besteht im Gehorsam bis zum Tode, bis zum Kreuzestode. Nicht die Menschwerdung, nicht die Entäußerung, aber der Tod ist eine Erniedrigung, und der Tod am Kreuz eine doppelte. Der Tod ist eine Erniedrigung für denjenigen, der nie eine Sünde begangen hat, denn er ist der Sünden Sold; und der Tod am Kreuz ist eine doppelte Erniedrigung, denn er ist der Tod des Verbrechers, des bösen Sklaven, der, wenn auch sündig von Natur, doch nicht nöthig gehabt hätte, sich in Verbrechen hinein zu begeben, die des Kreuzestodes würdig sind. Wenn nun unser HErr, der Reine, der Heilige daran nicht genug hat, daß Er Sich aller Seiner Gottesherrlichkeit entäußert, Knechtsgestalt, aller Menschen Aehnlichkeit und Verhalten an Sich nimmt, sondern auch die Strafen der Sünder und der Verbrecher auf Sich nimmt, und statt aller Lobgesänge der himmlischen Geister auf Seine fleckenlose Reinheit und Heiligkeit das Blut- und Todesurtheil Pilati erwählt; so ist das in Wahrheit eine Erniedrigung, auch wenn sie aus dem Gehorsam gegen den himmlischen Vater und aus der treuesten Meinung hervor geht, den allerhöchsten Willen zu erfüllen. Denn wenn gleich der HErr den Tod und das Kreuz durch Sein Sterben adelt und ehrt, so wird Er doch nicht durch Tod und Kreuz geehrt, sondern eine Schmach wird Ihm angethan, die keinem angethan werden kann, weil kein andrer ist, wer Er ist, und wie Er ist. Da stehen wir nun am Ende des Stufenganges JEsu. Er geht immer weiter abwärts, vom Entschluß des sechsten Verses zur Entäußerung, und von der Entäußerung zur Erniedrigung, zur schmachvollen Erduldung unsrer Pein, zur stellvertretenden Büßung unserer Strafe. Wir haben also den HErrn herab begleitet von der Höhe des Oelbergs bis zum Kidron-Bette im Thal, und damit uns der volle Eindruck werde von dem

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 217. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/225&oldid=- (Version vom 1.8.2018)