Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres | |
|
mit ihr gestiftet, die innig und ewig ist, so kann es ja nicht anders sein, es muß die Menschheit, die der Gottheit im Schooße sitzt, von den Kräften dieser überströmt werden, durchleuchtet und umleuchtet, wenn nicht eine besondere Absicht Gottes eintritt, diese Folge der Vereinigung der Gottheit mit der Menschheit aufzuheben oder zu verhindern. Die göttliche Gestalt folgt aus der göttlichen Vereinigung. Diese göttliche Gestalt ist in unsrem Textesverse noch durch einen andern Ausdruck erläutert, nemlich durch den Ausdruck: „Gott gleich sein“. Aus diesen Worten zeigt sich, daß die göttliche Gestalt der großen Majestät entsprechen müße, welche sich in der Gottgleichheit ausdrückt. Was für eine Gestalt und Erscheinung ziemt wohl dem Immanuel, der Gotte gleich ist! Wenn wir uns alles denken, was wir in der Geschichte von der Verklärung Christi, oder in der Offenbarung St. Johannis von der göttlichen Gestalt lesen, und alle Züge Seiner Majestät versuchen würden zusammen zu stellen, so würden wir doch nicht zu dem gelangen, was in unserm Texte „göttliche Gestalt und Gottgleichheit“ heißt. Unser Blick, unsre Einsicht, unsre Kraft bleibt weit hinter der Aufgabe zurück, die wir uns stellen würden; dennoch aber bleibt das eine gewiße Sache, daß unter Gottesgestalt und Gottesgleichheit etwas unaussprechlich Hohes und Großes zu verstehen ist. Wir können es kaum ahnen, der HErr aber Selbst erforschte, erkannte und kannte Seine Herrlichkeit. Dennoch aber hielt er sie nicht für einen Raub. Dieser Ausdruck ist es, meine lieben Brüder, welchen ich meinte, als ich euch oben sagte, der sechste Vers unsres Textes laße uns die einzige Demuth JEsu Christi erkennen. Was soll nemlich das heißen: „Er achtete es nicht für einen Raub Gott gleich sein,“ oder: „Er achtete die Gottgleichheit für keinen Raub“? Der siebente Vers erläutert hier den sechsten, indem er das Gegentheil von dem angibt, was der Apostel im sechsten Verse mit dem Ausdruck bezeichnet: „für einen Raub achten“. Der siebente Vers sagt: „sondern er entäußerte sich selbst“. Hätte also der HErr Seine Gottgleichheit für einen Raub geachtet, so würde Er sich derselben nicht entäußert haben, die göttliche Gestalt würde nicht weggenommen worden sein, sie wäre vielmehr dageblieben, und der HErr hätte Sich gleich von Anfang an den Menschen in Seiner Glorie gezeigt. Wenn ein römischer Feldherr einen ausgezeichneten Sieg errungen hatte, so wurde ihm die Erlaubnis gegeben, triumphirend in die Hauptstadt der Welt einzuziehen, und bei dieser Gelegenheit trug man alsdann die Beute oder den Raub, der dem Feinde abgenommen war, vor dem Sieger her und hinein in die fröhliche bewundernde Stadt Rom. So hätte ja der HErr Christus, wenn Er die göttliche Gestalt und Gottgleichheit für einen Raub geachtet hätte, für eine Beute, die Seine Menschheit gewonnen hätte, auch in diese Welt herein prangen können in aller Seiner Herrlichkeit; aber das geschieht nicht, denn die göttliche Gestalt und Gottgleichheit ist kein Raub, sondern ein seliger und unaussprechlicher Besitz der mit der Gottheit in ewiger Herrlichkeit, aber auch in ewiger Demuth verbundenen Menschheit. Die fleckenlos reine Menschheit JEsu ist durch die Verbindung mit der Gottheit in ein Loos und eine Herrlichkeit eingetreten, welche sie selbst von Ewigkeit zu Ewigkeit preisen und besingen, und als ein freies Geschenk der ewigen Gottheit ansehen wird. Es ist hievon nicht viel zu reden; hie ist irren leicht, richtig reden schwer; was ich aber meine, das versteht ihr: Der HErr hat in demüthiger Wahrhaftigkeit und wahrhafter Demuth die Pracht Seiner göttlichen Gestalt und Gottesgleichheit nicht Schau getragen, wie man eine Beute Schau trägt. – Was aber hat Er gethan? Und hier kommen wir nun zu der zweiten Stufe des Stufenganges, von dem wir oben sprachen. Was hat Er gethan? „Er entäußerte Sich Selbst und nahm Knechtsgestalt an, und ward wie ein andrer Mensch erfunden“, oder, wie es noch näher an den Worten des Textes heißt: „Er entleerte Sich selbst, indem er eines Knechtes Gestalt annahm, in der Menschen Aehnlichkeit erschien.“ Wenn uns der Ausdruck „Gottesgestalt, Gottgleichheit“ auf ein Gebiet führt, wo uns der sichere Tritt unmöglich wird, so geschieht uns ein Gleiches mit dem Ausdruck: „Er entleerte sich, er entäußerte sich.“ Weil wir nicht wißen, was alles zur göttlichen Gestalt und Gottesgleichheit gehört, so wißen wir auch nicht, was alles Er ausleerte, und es geht uns hier wie sonst oft in der heiligen Schrift, daß wir mit dem allgemeinen Verständnis eines Wortes uns begnügen müßen, deßen Tiefe und Reichtum sich unserm Verständnis entzieht. Das merken wir aber, daß der HErr die göttliche Gestalt und äußerlich erscheinende Gottesgleichheit ablegt, von Sich thut und dagegen an die Stelle der Gestalt des ewigen HErrn
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 216. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/224&oldid=- (Version vom 1.8.2018)