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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

gewesen zu sein, eine Erniedrigung aber ohne vorausgehenden Zustand der Hoheit nicht zu denken ist. Nun könnte man bei unsrem HErrn den Zustand der Hoheit auf eine doppelte Weise verstehen, ihn entweder vor die Menschwerdung setzen, oder ihn mit der Menschwerdung zusammen treffen laßen. Nimmt man an, daß das erstere der Fall sei, so kann man, ja muß man auf den Gedanken kommen, daß in der Menschwerdung selbst eine Erniedrigung Gottes liege; dann wäre aber Gott ewiglich erniedrigt, weil ja in Christo JEsu die Menschheit für ewige Zeiten mit der Gottheit vereinigt ist. Im anderen Falle, wo man die Hoheit, die man sich zu denken hat, der Zeit nach mit der Menschwerdung selbst zusammen treffen läßt, entsteht die Frage, zu welcher Zeit man sich den Anfang der Erniedrigung eintretend denken müße. Läßt man diese mit der mühseligen Geburt des HErrn beginnen, so würde man die Zeit, da die zweite Person der Gottheit mit der noch ungeborenen Frucht des Mutterleibes Marien vereinigt war, als die Zeit der Hoheit denken müßen, während man doch auch aus dieser ganzen Zeit keine Spur aufzeigen kann, aus welcher die Glorie und Majestät des Hochgelobten erkannt werden könnte. Man müßte daher den Zustand der Hoheit dermaßen mit dem Beginne der Erniedrigung zusammen fallen laßen, daß der HErr in dem Augenblick, in welchem Er die Menschheit an sich nahm, auch die Erniedrigung begonnen hätte, und es würde aus dem Zustande der göttlichen Hoheit nur ein Augenblick und sofort nur Macht und Recht des Menschgewordenen werden, in göttlicher Gestalt zu erscheinen. Alles, was in dem sechsten Verse steht, die göttliche Gestalt, die Gottesgleichheit würde in den ersten Augenblick der Empfängnis Christi zu versetzen und anzunehmen sein, daß in dem Augenblick, da sich die ewige Gottheit der zweiten Person mit der Menschheit vereinigte, auch die Entäußerung und die Erniedrigung begonnen habe. Es läßt sich nicht leugnen, daß beide Annahmen ihre Schwierigkeiten haben. Aber auch das ist nicht zu verkennen, daß die zweite Annahme am Ende doch eher dem Texte zu entsprechen scheint, der vor uns aufgeschlagen liegt, als die erste. Der, von welchem gesagt wird, er habe sich erniedrigt, trägt doch bereits nicht blos den Namen der Würde, den Namen Christus, sondern schon den Namen JEsus, also den Menschennamen, so daß die Person, die sich erniedrigen soll, keine andere ist, als JEsus, der menschgewordene Gottessohn. Wenn man auch sagen wollte, daß es auch andere Stellen gebe, in denen göttliches von der menschlichen Natur ausgesagt werde, so wie menschliches von der göttlichen; so wird man für solche Stellen doch immer die Menschwerdung und die Vereinigung für beide Naturen voraussetzen müßen. Und ob man auch dies bestreiten und behaupten wollte, es würden hie und da einmal von der menschlichen Natur Christi Dinge ausgesagt, die vor der Menschwerdung geschehen seien; so würde doch immer der Ausdruck: „Er achtete die Gottgleichheit nicht für einen Raub“ dagegen stehen. Von der zweiten Person Gottes sagt man nicht, sie ist Gott gleich; sie ist ja Gott selbst, so kann keine Vergleichung stattfinden. Wohl aber kann man von dem Menschgewordenen in Seiner Hoheit und Herrlichkeit sagen: Er ist Gott gleich. Möge uns daher in dieser großen und wunderbaren Sache das Licht umgeben wie Dunkel, und wir vor großer Klarheit uns nicht alles und jedes zurecht legen können, so werden wir vielleicht doch den sicheren Weg betreten, wenn wir sagen: Der, welcher erniedrigt und erhöht wird, ist nicht Gott, sondern der Gottmensch. –

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 Wenn wir übrigens sagen, unser Text handle zum Theil von der Erniedrigung Christi, so ist das Wort „Erniedrigung“ selbst in einer allgemeineren Weise gebraucht, als eben im Texte; denn der Apostel führt unsre Gedanken in seinen Worten gewissermaßen einen Stufengang. Auf der letzten Stufe, im achten Verse finden wir die Rede von der Erniedrigung, während in den beiden vorausgehenden Versen noch keine Rede davon ist. Im sechsten Verse wird uns Jesus Christus gezeigt, wie Er sich in göttlicher Gestalt befindet; zugleich aber auch, wie in der Tiefe Seines Geistes eine Demuth regiert, die wir nicht haben können, weil wir nicht Gottmenschen, nicht Christus sind; die wir aber doch anbetend merken und verehren können. Aus dieser Demuth Seines einzigen Wesens ohne Gleichen, denn es ist ja sonst niemand, der Gott und Mensch wäre in Einer Person, geht alles, was der siebente und achte Vers erzählt, wie das Waßer aus dem Quell hervor, und wir können uns daher desto mehr freuen, des HErrn großes Thun aus Seinem Herzen entspringen zu sehen. Der HErr war in göttlicher Gestalt, die göttliche Gestalt aber war eine Folge der Vereinigung Seiner Menschheit mit der Gottheit. Da Gott die Menschheit an Sich genommen hat, und eine Vereinigung

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/223&oldid=- (Version vom 1.8.2018)