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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

auch der judenchristlichen Richtung innerhalb der Kirche, eben wegen des gemeinschaftlichen Namens mit dem Berge des Gesetzes; denn auch die Judenchristen, deren Heerlager bei den Juden in dem irdischen Jerusalem war, hiengen ja jüdisch mit dem Sinai zusammen, weil mit dem Gesetze, das auch sie auf eine ungöttliche, dem HErrn und Seinen Wegen völlig widerstreitende Weise theils länger festhalten, theils weiter ausdehnen wollten, als sich gebührte. Der Sinai und sein Gesetz sollte nach Meinung dieser Leute Hort und Heil der Juden und aller Völker sein und bleiben und immer mehr werden. Ebendamit zeigten sich diese Judenchristen den Juden und ihrem Vorbild Ismael ähnlich. Der war ja auch auf fleischliche, dem göttlichen Willen widerstreitende Weise geboren, ein Abrahamskind ohne Zweifel, aber doch durchaus nicht der Erbe der göttlichen Verheißung. So wollten die Judenchristen, Pauli Gegner, die Gotteskindschaft auch von eigenen, menschlichen Wegen, vom Halten des Gesetzes, und zwar gerade rücksichtlich seiner äußerlichen und gottesdienstlichen Satzungen abhängig machen. Nur wer diesen fleischlichen Weg gieng, der sollte als echtes Kind dem Gotte aufgedrungen werden, der doch Seine Kindschaft gar nicht mehr von den alttestamentlichen Satzungen abhängig machte. Gegenüber dieser durch Ismael mitvorbedeuteten judenchristlichen Schaar standen nun die Heidenchristen, als deren Vorbild Isaak erscheint. Isaak war ein Kind der Verheißung, von seiner Mutter wider alle natürlichen Gesetze im hohen Alter empfangen und geboren, in seiner Empfängnis und Geburt ein Wunder. An ihm zeigt sich die Macht der göttlichen Güte und Barmherzigkeit, während die Ohnmacht der menschlichen, alten Eltern so klar und offenbar dargelegt ist. So wie nun er nicht durch den Willen des Mannes oder Weibes, sondern durch göttliche Gnadenmacht in’s Dasein und in’s Leben gerufen ist, so sind auch die Heidenchristen Gottes Kinder nicht durch menschliche Bemühungen, nicht durch des Gesetzes Werke, sondern allein aus Gnaden, allein durch Christus, allein dqurch den heiligen Geist und die Taufe, allein aus Glauben. Sie sind der Verheißung Kinder: denn ehe es ein Gesetz gegeben hatte, ehe der Sinai bebte und rauchte, ehe Sich der HErr auf ihm in der Wolke zur Gesetzgebung gelagert hatte, ja von Anfang der Welt her und der Sünde, war es Beschluß und Wille des HErrn, die Menschen aus keinem andern Grunde als aus Gnaden, durch keinen andern Mittler als durch JEsum, durch kein anderes Mittel als durch die Taufe, durch keine andre menschliche Hand als durch den Glauben, der aber ja selbst wieder von Gott im Menschen erschaffen und alles eigenen Verdienstes baar ist, zu retten und selig zu machen. Die Judenchristen sind ganz Eines Looses mit den Juden. Sie stehen und fallen mit ihnen. Sie erscheinen daher in unserem Texte von den Juden ungetrennt, mit ihnen in einer Nähe und der engsten Verbindung, zunächst hier als Kinder der Sklavin Hagar, als Sklavenkinder, selbst als Sklaven. Die Heidenchristen hingegen erscheinen im ganzen Texte als die einzig wahren Christen; Heidenchrist und Christ ist wie Eine Person und Ein Name. Sie sind die Kinder der freien Mutter Sara, die freien Leute, die Herrenkinder, selbst die Herren. Das Gesetz also erscheint als Zwang, das Evangelium als Freiheit, wie denn allerdings derjenige, welcher durchs Gesetz selig werden soll, immer in Angst und sklavischem Sinn dahin gehen muß und niemals weiß, ob er dem HErrn genug gethan hat, ja oftmals sicher das Gegentheil weiß, und dann in sklavischer Furcht und Zagen vergehen muß. Dagegen ist allerdings frei und ein Freiherr derjenige, für welchen Christus der HErr alles vollbringt, was zur Seligkeit nöthig ist, und ihn mit Seinem Leiden und Thun aus der unerträglichen Sorge um sein ewiges Heil in den tiefen Frieden des ewigen Gewinnes versetzt. –

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 Aus dem allen geht hervor, wie vortrefflich der Charakter der vorbildlichen Personen dem Apostel dienen muß, Judenchristentum und Heidenchristentum einander gegenüber zu stellen. Ebenso dient aber auch das Verhalten und Schicksal der vorbildlichen Personen gegen einander vortrefflich dazu, das Verhalten und endliche Loos der Juden und Judenchristen so wie andererseits der Heidenchristen darzustellen. Ismael ist ein Spötter, ein Verfolger. Wen aber verspottet, wen verfolgt er? Wen anders als seinen Bruder Isaak. Was aber ist an dem zu verspotten? Ohne Zweifel seine wunderbare Geburt, der Vorzug, welchen er bei den Eltern als Sohn der Herrin, als Erbe des großen, reichen Herrn, des Vaters genießt. Es ist ein unverdienter Segen, ein Vorzug, der auf Isaak ruht; der bescheidene, stille

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 202. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/210&oldid=- (Version vom 1.8.2018)