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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

auffordern zu laßen, den ihrer Meinung nach sicherern, ja allein richtigen Weg zu gehen, sich nachträglich auch noch beschneiden und zur Erfüllung des jüdischen Gesetzes verpflichten zu laßen. Die Sache war für Paulum und seine Gemeinden keine Kleinigkeit. Hatten diese Judenchristen Recht, so hatte Paulus die Heidengemeinden sämmtlich irre geleitet, so waren die, die seines Glaubens lebten und starben, verloren, so war Christus nicht der einige Grund des Heils, so hatte er das Heil der Menschheit nicht vollbracht, sondern die Menschen mußten durch Gesetzeswerke dazu mitwirken, auf zweierlei Gründen beruhte dann das ewige Heil; dazu hatten die Apostel zu Jerusalem falsch entschieden, ein ungeheures Aergernis gegeben, und die bereits zahlreichen ja fast zahllosen Heidenchristen waren von den Aposteln selbst auf eine furchtbare Weise betrogen. Die Ruhe, die Freude, die Seligkeit der Heidenchristen stand auf dem Spiel, und es war in der That kein Wunder, sondern es ist leicht zu erklären, ja ganz und gar zu billigen, wenn der Apostel in seinem Briefe an die Galater und an andern Orten mit aller Macht gegen diese blinden Ruhestörer, diese bösen Arbeiter, die er billig nicht eine Beschneidung, sondern eine Zerschneidung heißt, ankämpfte und seine von Gott gesegnete, reiche, heilige Arbeit unter den Heiden in Schutz nahm. Alle Heiden müßen ihm dafür danken, auch alle Judenchristen sollten ihn dafür gelobt und gepriesen haben. Aber so leicht gelang ihm sein Sieg nicht. Er wurde nach Rom geschleppt, und schrieb von dort aus seine Briefe. Der heilige Petrus, 2. Petr. 3, 15. 16 zollte seinen Briefen Anerkennung; Johannes trat nach seinem Weggang aus dem Morgenlande selbst in seine Wirksamkeit in Kleinasien ein. Jerusalem und der Tempel sank im Jahr 70 in Staub und Asche, und das alttestamentlich gesetzliche Wesen verlor damit allen Halt und Mittelpunkt. Dennoch aber klammerten sich noch lange hin viele Judenchristen an die pharisäische Meinung der Friedensstörer Pauli an, und es bedurfte mehr als einmal der gewaltigen Hand des allmächtigen Gottes, um die verkehrte judenchristliche Richtung zu vernichten und Paulo, dem Lehrer aller Heiden und seiner Weisheit die allgemeine Anerkennung zu verschaffen, die ihm geworden ist. – Irren wir nicht in der einfachen Auffaßung der prophetischen und apostolischen Schriften nach ihrem Wortlaute, so kommt noch einmal eine Zeit des Heiles und der Bekehrung für die Juden, und es wird in der alten Heimat Christi und Seiner Kirche, im heiligen, gelobten Lande, eine große leuchtende Gemeinde von Judenchristen entstehen. Diese Gemeinde wird ein Mittelpunkt aller Christen werden, und ihr Licht wird die ganze Kirche erleuchten, aber unpaulinisch wird sie nicht sein. Nicht die untergegangene judenchristliche Richtung wird sie wieder auf den Leuchter bringen, nicht einen doppelten Grund des Heiles legen, sondern ihr Licht wird allein aus den offenen Wunden JEsu quellen und Juden und Heiden in der einmüthigen Erkenntnis gründen, daß wir ohne des Gesetzes Werke allein aus Glauben selig werden.

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 Auch in die galatischen Gemeinden des heiligen Paulus waren die bösen Arbeiter eingedrungen, wie wir das bereits aus früheren Vorträgen wißen. Daher schreibt auch St. Paulus an die Galater den mächtigen, mit Recht hochberühmten Brief, aus welchem unser Text genommen ist, und wendet sich nun in diesem selber mit den Worten an die Galater: „Sagt mir, die ihr unter dem Gesetze sein wollt, hört ihr das Gesetz nicht?“ Aus diesen Worten Pauli sieht man, daß die judenchristlichen Sendlinge in den galatischen Gemeinden nicht ohne Glück gearbeitet hatten; man sieht es aus dem ganzen Briefe, man sieht es aus dem einundzwanzigsten Verse des vierten Kapitels. Redet doch der Apostel die Galater als solche an, „die unter dem Gesetz sein wollen“; das könnte er nicht, wenn die Verführer nicht Eingang gefunden hätten. Da war es also noth zu schreiben, zu lehren und zu wehren. St. Paulus schlägt im übrigen Briefe mancherlei Wege ein, um seine verführten und gefährdeten Schüler zurecht zu bringen, in unserm Texte aber versucht er, die Gesetzeslustigen durch das Gesetz selbst auf den rechten Weg des Heiles zurück zu bringen. „Hört ihr das Gesetz nicht“, fragt er, und meint damit allerdings nicht die Satzungen und die zehen Gebote, sondern das Gesetzbuch, die Bücher Mose, die heilige Thorah, die nicht blos die Satzungen, sondern auch die Geschichten des alten Bundes enthält. Denn eine Geschichte will er gebrauchen und anwenden, die Geschichte Sara’s und Hagar’s, Isaaks und Ismaels. Man könnte hier wohl sagen, es sei das Wort „Gesetz“ in Einem Verse nach doppeltem Sinne gebraucht, weil der Apostel

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 199. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/207&oldid=- (Version vom 1.8.2018)