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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

darstellen, welche sie gegen die stärkste Hand des Teufels, gegen die heftigste und andauerndste, gewöhnlichste Anfechtung, nemlich von Seiten der bösen Lust und der Habsucht zu bestehen hat. Einerlei Thema haben die beiden Evangelien, einerlei die beiden Episteln, nur daß von beiderlei Texten immer der zweite der stärkere und mächtigere ist. Wie die Texte, so die Auslegungen. An beiden Sonntagen haben sie gleichen Inhalt. Es ist auch gar nicht Ursache, sich vor einer doppelten Besprechung derselben Gegenstände von dieser Stelle aus zu scheuen. Jeder von den beiden heutigen Texten hat sein Besonderes vor denen des vorigen Sonntags voraus, so daß wir reicher von dannen gehen können, wenn wir wollen, als am Schluße der vorigen Sonntagsbetrachtung. Dazu kommt ja auch die hohe Noth der Zeit, die Wichtigkeit der Sachen, die Größe der Gefahren, in welchen die Kirche steht. Wir werden daher wohl thun, uns freudig und willig darein zu schicken, das ähnliche Wort des Apostels Paulus, welches er an die Ephesier von Unreinigkeit und Habsucht schreibt, in’s Auge zu faßen, so wie wir am vorigen Sonntag das Wort gleichen Inhalts an die Thessalonicher betrachtet haben.

 Unser heutiger epistolischer Text umfaßt die neun ersten Verse des fünften Kapitels an die Epheser. Von diesen neun Versen enthalten zwei, der dritte und vierte, den Brennpunkt des Ganzen, die eigentliche Warnung vor den Sünden, die wir im Allgemeinen bereits genannt haben. Drei Verse, nemlich 5–7, verstärken die Warnung, indem sie mit großem Ernste auf die göttliche Strafe hinweisen, welche denen folgen soll, die trotz des apostolischen Wortes und Verbotes sich dennoch den Sünden hingeben werden. Die beiden Anfangs- und die beiden Schlußverse des Textes aber sind allgemeinerer Art, leiten den Ernst der beiden mittlern Theile des apostolischen Wortes ein und aus. So fügt sich das Ganze harmonisch zusammen und empfiehlt sich jedem Leser und Hörer zu tiefster Würdigung und treuer Prüfung. – Wir folgen dem Gang des apostolischen Wortes mit treu betrachtendem Auge. –

 Im Eingang spricht der Apostel: „So seid nun Gottes Nachfolger als die lieben Kinder“. Hier, meine lieben Brüder, wird uns gezeigt, daß wir können und dürfen, was wir nicht gedacht und nicht geahnt, haben. Man sagt uns wohl, wir sollen dem und dem Menschen nachfolgen, und wir verstehen und begreifen eine solche Vermahnung sehr wohl, denn was ist natürlicher, als daß ein Mensch dem andern nachfolgt. Wenn wir aber von irgend einem andern als von einem Apostel ermahnt würden, Gottes Nachfolger zu werden, so würden wir wohl die Antwort geben: „Gott kann und darf man nicht nachfolgen oder Ihm nachahmen. Wir sind nur Staub, und wenn man auch einen gewaltigen Schlag in den Staub thut, um ihn aufzuregen und fliegend zu machen der Sonne entgegen, der Sonne nach, so fliegt er doch nicht hoch und nicht lang, sondern er fällt wieder zur Erde. Was kann der Staub Gott nachahmen? Welch ein Hochmuth ist es, es zu wollen? Wenn einer der Sonne nachfolgen wollte in ihrem reißenden Strahlengange, so würde man ihn für unsinnig halten; was soll man aber von Einem sagen, der Gott nachfolgen will?“ So würde man sprechen können, und wahrlich, man könnte in dieser Sprache eine große Wahrheit finden. Allein da steht nun eben ein Apostel, ein Abgesandter Gottes, und befiehlt uns in Seinem Namen, was wir weder zu können, noch zu dürfen glaubten. Wir sollen Gottes Nachfolger werden, und der Grund, warum, ist uns angesagt: „Seid Gottes Nachfolger als die lieben Kinder“. Also weil wir Kinder sind, aus Gott geboren, so können und dürfen und sollen wir dem Vater nachfolgen, aus dem wir geboren sind; und weil wir nicht allein aus Gott geboren und Gottes Kinder, sondern auch von Ihm geliebt, jetzt noch geliebt sind, so haben wir in der Liebe unsers Vaters noch einen Zug mehr zu allem Guten und zu alle der Nachfolge unsers allerliebsten himmlischen Vaters. Da finden wir uns also durch Sein eignes Wort getrieben, zu werden, was wir nie gehofft: „Nachahmer Gottes“, und weil wir ja allerdings Gottes Kinder sind durch Seine Taufe, so wallen und regen sich in uns die Kräfte der neuen Creatur, wenn uns von außen her, ja aus unsers Vaters Hause, ein Zuruf kommt, dem Vater nachzuarten. Unser Herz verlangt vor allem nur zu wißen, worinnen wir, die wir Staub sind, in der Kraft der neuen Creatur, die aus Gott ist, unserm HErrn und Gott nachfolgen dürfen und können; denn daß wir es doch nicht in jedem Stücke dürfen, ist am Tage. – Antwort auf

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 188. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/196&oldid=- (Version vom 1.8.2018)