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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Es kann unter dem Menschen, von dem er erzählt, kein andrer gemeint sein, als er selbst: niemand kann sich mit einer andern Auffaßung täuschen. So ist also die Form der Rede, wie wenn ein Geheimnis festgehalten werden sollte, der Inhalt aber ist Enthüllung des Geheimnisses, das er bisher verschwiegen zu haben scheint. Worin besteht nun aber dies Geheimnis? Offenbar in einer Entzückung bis in den dritten Himmel und bis in’s Paradies, und in einem Unterrichte und Mittheilungen, welche ihm dort auf wunderbare Weise gegeben und gemacht worden waren. „Ich kenne einen Menschen in Christo Jesu, derselbe ward hingerissen bis in den dritten Himmel, in’s Paradies und hörte unaussprechliche Worte, die kein Mensch sagen kann“; so sagt St. Paulus selbst. Während manche in früheren Zeiten gezweifelt haben, ob unter dem biblischen Ausdruck „Himmel“ ein Ort und nicht vielmehr ein bloßer Zustand angedeutet werde, ist St. Paulus aus eigner Ansicht in voller Klarheit. Der Himmel ist ein Ort, in welchen er entrückt wird. Ja der Ort ist selbst wieder dreifach, denn er sagt ja, er sei in den dritten Himmel entrückt worden. Es gibt also einen dritten Himmel, und eben deshalb auch einen ersten und zweiten. Wenn wir auch nicht mit Sicherheit sagen können, ob die Alten Recht hatten, die behauptet haben, der erste Himmel sei der Lufthimmel, der zweite aber der Sternenhimmel, so erleidet es doch gar keinen Zweifel, daß der dritte Himmel das Paradies ist, denn St. Paulus braucht ja im vierten Verse von dem dritten Himmel den Namen „Paradies“. Also in das Paradies, d. i. in die Wohnung Gottes, die seit der Sintfluth nicht mehr auf Erden, sondern über die für uns sichtbare Welt, hinausgerückt und in einen Ort gebracht ist, wohin sich die Folgen unsrer Sünde am wenigsten erheben konnten, dahin wurde der Apostel entrückt. Es war also nicht wie bei den früheren und späteren Entzückungen und Gesichten Pauli, von denen die Schrift erzählt, in welchen sich Christus Seinem Apostel nahte; sondern da nahte sich der Apostel Ihm, er ward entrückt zu Gott.

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 Daß er dies wurde, ist ihm selbst kein Zweifel; er erzählt, er wiederholt es. Ob er aber blos der Seele nach entrückt wurde, ob seine Seele für die Zeitdauer der Entzückung den Leib verließ, und außer dem Leibe wallte, wie im Tode, oder ob auch der Leib an der Entzückung Theil hatte und mit hingerißen wurde bis in den dritten Himmel, das weiß er nicht. Für möglich hält er das letztere wohl, sonst würde er es nicht in die Wahl oder in Zweifel stellen, ob es geschehen ist, oder nicht; aber gewis weiß er es nicht. Hingenommen in die Betrachtung und Erfahrung deßen, was ihm geschah, gedachte er seiner nicht. Daß er entrückt wurde von der Erde bis ins Paradies, das wußte und merkte er wohl; ob aber sein ganzer Mensch oder blos ein Theil von ihm, die Seele, die Himmelfahrt machte, das wußte er nicht. Dagegen aber blieb ihm die Zeit, zu der es geschah, unvergeßen, er kann die Jahre darnach zählen, er weiß, daß es vierzehn Jahre vor dem Jahr gewesen ist, in welchem er schrieb. Hat St. Paulus den zweiten Brief an die Corinther im Jahre 57 geschrieben, so fällt diese Entzückung etwa in’s Jahr 43, in die Zeit seines Aufenthalts zu Antiochien, wo er vereint mit Barnabas die außerordentliche große Wirksamkeit gefunden hatte. Ist aber der zweite Brief an die Corinther im Jahre 59 geschrieben, so fiel die Entzückung etwa in’s Jahr 45, in die Zeit, in welcher Paulus seinen Beruf als Heidenapostel antrat und hinausgieng unter die Völker, um ihnen das Kreuz JEsu Christi zu verkündigen. Beiderlei Zeitpunkt ist bedeutungsvoll und wichtig genug für das Leben des Apostels und die Fortbewegung der Kirche. Ob es zur ersten oder zweiten Zeit geschehen ist, immer wird offenbar, wie sich der HErr mit dem Jünger vereinte, ihn zu seinem Dienste und zu seiner Laufbahn stärkte. Zwar ist es bis zur Stunde ein Geheimnis, was der HErr dem Apostel zeigte, was er ihm offenbarte, denn St. Paulus sagt ja selbst, er habe unaussprechliche Worte vernommen, die kein Mensch sagen könne; aber immerhin müßen diese Worte in einer Beziehung zum Amte des Apostels gestanden haben; immerhin wird der HErr ihn durch Seine heilige Offenbarung zum Lehrer der Heiden haben tüchtig machen, und ihm die Schule ersetzen wollen, welche die Zwölfe bei Ihm auf Erden durchgemacht hatten; immerhin wird er dadurch nicht weniger als durch die Leiden seiner darauffolgenden Amtswirksamkeit als Diener und Apostel JEsu Christi hingestellt, mit welchem sich kein corinthischer Eindringling vergleichen kann, und die Erwähnung der Sache muß zum Zwecke des heiligen Paulus sehr dienlich gewesen sein. So stand

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 156. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/163&oldid=- (Version vom 1.8.2018)