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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Christus allein für uns alle gethan hat, sondern daß wir Dankopfer und Anbetung dem HErrn bringen, von welchem wir die Gabe Seines köstlichen Wortes empfangen. Entweder empfangen wir also und nehmen, oder wir geben. Gottes Wort nehmen wir, und wenn es in uns gewirkt hat, dann geben wir’s wieder in der Form unsres Opfers. So finden wir es auch in unserm Textesverse. Da lesen wir zuerst: „Laßet das Wort Christi reichlich unter euch wohnen“. Das Wort Christi ist doch gewis nichts anders, als das Wort, welches Christus geredet hat; sei es mittelbar durch seine heiligen Propheten im alten Testamente, sei es unmittelbar bei Seinem Wandel auf Erden. Die apostolischen Gemeinden lasen in ihren Versammlungen ohne Zweifel das mittelbare Wort Christi im alten Testamente; sein unmittelbares Wort wurde ihnen entweder von Aposteln erzählt, oder in deren allmählich heranwachsenden Evangelien und Episteln gelesen. Das sollte auch sein. Darum sagt der Apostel: „Das Wort Christi wohne unter euch reichlich“. Da haben wir also in den apostolischen Gemeinden bereits dieselbige Einrichtung wie bei uns. Auch wir kommen niemals zum Gottesdienste zusammen, ohne miteinander Gottes Wort zu lesen; es ist in den protestantischen Kirchen eine fast unerhörte Sache, daß man irgend zusammenkäme, ohne das Wort zu lesen. Ob wir allezeit und in allen Fällen die rechte Weisheit haben, Lectionen aus dem göttlichen Wort zu wählen und zu lesen, das ist eine andre Frage; aber gelesen wird, und das Wort Gottes wohnt reichlich in unsern Versammlungen. Es gibt wohl unter uns Menschen, die in dem Wahne leben, daß es nicht nöthig sei, in der Kirche so viel aus Gottes Wort vorzulesen. Weil jedermann die gedruckte Bibel hat, also selbst lesen kann, däucht es ihnen ganz unnöthig, in der Kirche so viel vorzulesen. Allein die ersten Christen lasen in ihren Häusern eifriger, als wir, die heiligen Schriften alten und neuen Testamentes. Es kostete mehr Fleiß und Geld und Mühe als jetzt, sich das Wort Gottes anzuschaffen, abschreiben zu laßen, oder abzuschreiben, aber die größere Schwierigkeit erweckte auch zu desto größerem Eifer, während die große Bequemlichkeit, die wir heutzutage bei Anschaffung des göttlichen Wortes genießen, tausend Vorwände zu veranlaßen pflegt, um deren willen wir das Wort Gottes nicht lesen. Weil wir es so leicht lesen können, deshalb gerade lesen wir es nicht; es scheint uns als kämen wir zu dieser Arbeit noch allezeit zeitig genug; würden daher auch die Lectionen in der Kirche verstummen, so würden manche, wo nicht gar die meisten unter uns, Jahre lang von Gottes Wort weder etwas sehen noch etwas hören. Schon deshalb kann man es eine gebieterische Nothwendigkeit nennen, das Wort Gottes ja recht reichlich unter uns, das ist in unsern Versammlungen, wohnen zu laßen. Ob wir es aber auch des Privatfleißes im Bibellesen halber nicht nöthig hätten, das Wort Gottes in den Versammlungen zu lesen, so ist doch gerade fleißigen Lesern das gemeinschaftliche Lesen oder lesen Hören eine große Süßigkeit und Seligkeit. Ein brennendes „Halleluja“ steigt nach der Epistel, ein anbetendes „Lob sei Dir, o Christe“ nach dem Evangelium von allen eifrigen Lesern zu Gott auf. Ueberdies aber ist das Lesen des göttlichen Wortes die Vorbedingung des zweiten Theiles unseres Textesverses, der uns sagt, daß wir in aller Weisheit einander lehren und zurechtweisen sollen. Zwar ist es bei uns nicht mehr wie in den ersten Gemeinden, wo unter Aufsicht und Leitung des göttlichen Hirtenamtes die verschiedenen Gemeindeglieder je nach ihrer Gabe redend auftreten und zur gemeinsamen Erbauung ihren Beitrag geben durften. Wir können einander nicht lehren, nicht zurecht weisen; nur einer spricht, die andern schweigen. Indes ist es auch offenbar, daß unsern Gemeinden die Gaben fehlen, welche in den ersten Zeiten reden machten. Wer hat gegenwärtig etwas zu reden, zu lehren, zu ermahnen, wen treibt Gottes Geist und Liebe dazu? Wie oft würde es bei uns gehen, wie in den Versammlungen der Quäker, da man auch oft unangesprochen wieder heimgeht, weil kein Anwesender den Trieb zu reden in sich findet! Wir sind gar arme Spätlinge, wir dürfen nur froh sein, wenn einer redet, wenn einer lehrt, wenn einer vermahnt, und wenn seine Lehre und Vermahnung in aller Weisheit geschieht und dem göttlichen Worte getreu ist. Obwohl ein jeder das Wort selbst lesen kann und soll, obschon es auch jeder hören kann und soll, so nimmt man sich doch tausendmal aus dem gelesenen und gehörten Worte die Lehre und Zurechtweisung nicht, die man sich nehmen könnte, sondern es bedarf einer eignen Gabe, der Gemeinde die Lehre und Zurechtweisung

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 132. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/139&oldid=- (Version vom 1.8.2018)