Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres | |
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man sich auch ganz wohl andrer als der Brüder erbarmen kann, und die Barmherzigkeit gegen die Brüder, die Kinder eines und desselben Vaters durch die Bruderliebe theils gesteigert, theils auch viel zarter und lauterer werden wird. In der Bruderliebe liegt eingeschloßen die Hochschätzung der gleichen Geburt aus dem Geiste eines und desselben Vaters. Wohlwollen, Neigung und Wallen der Herzen ist groß von wegen der engen Verwandtschaft, aber man kann nicht anders, man muß mit dem wallenden Herzen gegenseitige Werthschätzung verbinden wegen der gemeinschaftlichen Abkunft von dem allerhöchsten Vater. Wenn man zu allen denen im 12. und 13. Verse genannten Tugenden der heiligen Vertragsamkeit die Liebe hinzu fügt, so fügt man damit allerdings diese Tugenden selber zusammen, denn die Liebe ist ein Band, eine Verbindung, ein Zusammenhang aller Vollkommenheit. Alle einzelnen Tugenden, welche der heilige Geist im Menschen wirkt, sind wie kostbare Perlen, die aber unverbunden und lose da liegen vor den Augen des Beschauers und durch die Vereinzelung nicht blos leichter verloren gehen, sondern auch den schönen harmonischen Glanz nicht bekommen, welchen sie haben würden, wenn man sie verbände. Sie müßen zu einander in Beziehung und mit einander in Verbindung gebracht werden, damit aus ihnen allen die heilige, von Gott gewollte Vollkommenheit werde, welche wir in Christo Jesu schauen und von Ihm aus Gnaden erben sollen. Diese Vereinigung aber liegt in der Liebe; sie ist das Band, die Vereinigung aller Tugenden zu einer heiligen Vollkommenheit. Man nehme alle Tugenden, die im 12. und 13. Verse genannt sind, und versuche die Liebe von ihnen weg zu laßen, so bekommt man die Beschreibung des feinsten, aber auch des höchsten Maßes der Selbstsucht, einer Selbstsucht, welche eine Weile der Tugend sehr ähnlich sehen kann, dennoch aber dem Abgrund und der Hölle geweiht, wie aus ihr entstiegen ist. Dagegen aber reihe man alle die genannten Tugenden an die Bruderliebe wie an ein Band, so bekommt man die Beschreibung der edelsten Vollkommenheit. Erbarmen aus Bruderliebe, Freundlichkeit in brüderlicher Liebe, Demuth, Sanftmuth, Langmuth in Bruderliebe; sich vertragen und erbauen, gegenseitig vergeben und zu gute halten aus Bruderliebe, das gibt in der That eine Verbindung, ein Band, ein Diadem, eine Krone von Kleinodien und Perlen, über welche man schreiben kann: „Vollkommenheit“, christliche Vollendung, schönstes Maß der Tugend, und man könnte nur traurig werden, weil die Liebe, dies Band aller Tugenden zur Vollkommenheit oft so sehr fehlt, und dann eine heilige Tugend um die andere in so große Noth kommt, ja wohl Schiffbruch leidet. Da helfe Gott seiner pilgernden Schaar, welche hienieden durch des Teufels wuchernde Saatfelder zu wandern hat, sich in Liebe zusammenhalten und zum ersten Theil des Textes den zweiten fügen. So wächst dann schon die Hoffnung der Heerde, nicht zerstreut zu werden, sondern unter allen Gefahren aushalten zu können bis zum seligen Siege und Ziele.
Wir stehen beim dritten Theile der Epistel, der wörtlich also heißt: „Und der Friede Christi regiere in euren Herzen, zu welchem ihr auch berufen seid, in Einem Leibe.“ Schon das Bindewort „und“ zeigt uns, daß der Apostel noch ganz im Zusammenhang mit den vorigen Versen redet, daß er also noch immer zeigt, wie die Gemeinde Christi, als eine zusammengehörige und einige Schaar, durch die Hindernisse dieser Welt ihrem Ziele entgegen pilgern soll. Aus dieser Absicht aber ergibt sich, daß der Friede Christi oder Gottes, von welchem hier die Rede ist, und der in unsern Herzen herrschen soll, hier nicht wie in vielen andern Stellen als jene stille Ruhe zu faßen ist, die wir in den Wunden Jesu und in der Gewisheit der von ihm gestifteten Versöhnung finden. Wenn es auch im Grunde nicht einen mehrfachen Frieden geben kann, sondern der Friede des Christen immer nur einer ist, deshalb die Wurzeln alles Friedens in der Versöhnung liegen, so hat doch der Friede selber verschiedene Eigenschaften. Bald macht er uns stille ruhen, bald ist er eine süße vertrauensvolle Hingabe in die siegreichen Thaten und Leiden Christi zu unserm Heile, bald aber ist er ein schäftiger, mächtiger Friedensstifter, ein Ordner und Regierer in den Herzen und in der Gemeinde. In der letzteren Eigenschaft tritt er in dem Verse unseres Textes auf, an dem wir stehen. Es heißt ja: „Der Friede regiere in euren Herzen.“ Es ist hier ein seltenes Wort im Grundtexte gebraucht, ein Wort, welches in der heiligen Schrift nicht noch einmal vorkommt. Die Heiden hatten ihre größte Freude an Festspielen, bei welchen sich die verschiedensten Talente zeigen, ihre
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 130. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/137&oldid=- (Version vom 1.8.2018)