Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres | |
|
Anfang ohne Ende, eine abgebrochene Säule, nichts ganzes, schwer erkannt von andern, meist nicht erkannt, ein ingrimmiges sich selbst Verzehren und Aufreiben in der Erkenntnis des eignen Nichts, der eignen Sünde, die Art eines Herzens, das mit Gott und sich selber zürnt, und sich nicht demüthigen mag unter die Wahrheit und unter die gewaltige Hand Gottes, auf daß er sie erhöhe zu seiner Zeit. Milde Sanftmuth ist der wahrhaftigen Demuth natürliche Außenseite; nicht glaubt man an die Demuth, welche das friedliche gütige Licht der Sanftmuth nicht von sich gibt. Die letzte einzeln genannte Tugend in Vers 12 ist „Langmuth“, oder wie Luther übersetzt „Geduld“. Dies Wort benennt eine unerläßliche Eigenschaft der beiden angeführten Tugendpaare. Was ist Erbarmen und Güte, Demuth und Sanftmuth ohne Langmuth?! Eine Reue des Guten, ein Abfall vom rechten Vorsatz, ein Abweichen vom schmalen Wege, ein Bach, der erst die Felder gewäßert hat, dann aber überläuft und sie mit seinem Sande bedeckt, sein eigenes, schönes Werk verderbt, ein Spott der Tugend, die unvergänglich sein soll, durch Mangel an Langmuth aber um ihre Ewigkeit und um ihr Leben gebracht wird. Darum ruht wie unter der Schrift das Siegel, die letzte Tugend unterhalb des Lagers der beiden andern Tugendpaare; die fünf Tugenden aber alle mit einander sind Tugenden nicht für sich, nicht innere Vollendung ohne Bezug auf die Gemeinschaft, sondern sie sind lauter Tugenden des Verhaltens gegen andere und haben mit einander ihr Ziel und ihre heilige Absicht im Vertragen der Brüder, in der erbaulichen, segensreichen Arbeit einer Seele, die auf allen Tritten und Schritten ihres Gangs durchs irdische Jammerthal sich bewußt bleibt, daß sie niemand Aergernis geben dürfe, sondern zur Rettung möglichst vieler für das ewige Leben, Zeit und Kraft anzuspannen habe. Wer ein Leben in Vertragsamkeit und verzeihender Holdseligkeit gegen seine Brüder führen will, kann von den genannten Tugenden keine entbehren, sie alle sind Factoren des erwünschten heiligen Produktes, und des Lebenslaufes, von dem wir reden, den wir meinen, man kann sie Tugenden der heiligen Vertragsamkeit nennen. Nicht, daß sie gar keine andre Bedeutung, keinen andern Werth hätten, nicht, daß sie nur vorarbeitende Mächte der Vertragsamkeit wären, aber sie sind doch auch das, und es mehrt ihre Kronen, zu allem Guten mitzuhelfen; zumal hier in unserm Texte scheint es, als ob wir sie gar nicht anders faßen dürften. – Diese Tugenden alle sind es, welche in unserm Texte wie ein Kleid angeschaut werden, das man anziehen soll, und wahrlich, wer sich recht beobachtet, der findet, daß insonderheit sie immer in der Wahl des Menschen stehen, und am schwierigsten zu einer unüberwindlichen Gewohnheit der Seele werden. Neues Kleid, altes Kleid, zwischen beiden wählt man; ausziehn, anziehn, das heißt wählen. Wählen aber ist häufig ein Schwanken, bei welchem man nicht weiß, ob man das ob jenes nunmehr ergreifen wird. Da wiegt sich’s, da winkt und wankt es hin und her, wie wenn man auf einem losen Balken geht, und wenn du nicht sacht und grad und stille gehst, so wirst du unversehens im Schlamm des Bodens liegen, und das gehoffte Gelingen sich in bittres Leid verlieren. Daher entschließ dich, so lange du lebst in dieser Arbeit zu bleiben. Zieh’ aus, zieh’ an, wähle, triff immer aufs neue die rechte Wahl, übe immer die rechte Tugend, und laß dir Vertragen und holdseliges Verzeihen zum rechten heiligen Lebenszwecke werden. So erhält man sich, so erhält man, so viel es auf uns ankommt, das Heerdlein JEsu unter der wuchernden Saat des bösen Samens zum ewigen Leben.
Noch in strengem Zusammenhang mit den ersten Versen des Textes fährt der Apostel fort, und empfiehlt den Colossern die Liebe. „Ueber das alles aber, spricht er, ziehet an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit.“ Zwar gebietet der Apostel schon im Anfang des Textes herzliches Erbarmen, Inbrunst der Barmherzigkeit; und die Barmherzigkeit ist doch selbst nichts anders als eine gewisse Art von Liebe, nemlich die Liebe zu denen, die unglücklich sind und leiden, die mitleidende Liebe. Indem aber hier die Barmherzigkeit von der Liebe gewissermaßen geschieden wird, außer der Barmherzigkeit und über dieselbe die Liebe angezogen werden soll, sind wir veranlaßt nach einem Unterschiede der beiden zu spüren. Ich denke, meine lieben Brüder, wir finden auch den Unterschied. Ganz offenbar will der Apostel Paulus in unsrer Stelle die Liebe über das Erbarmen stellen; er führt vom Erbarmen zur Liebe, wie von einer Stufe zu der andern. Und er hat Recht, meine Brüder. Er versteht unter der Liebe die Bruderliebe, während
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 129. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/136&oldid=- (Version vom 1.8.2018)