Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres | |
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Vertragsamkeit zu rechnen sind. Die größte Gefahr ist, daß die Glieder Christi, und zwar eines des andern müde werden, und aus den Fugen gehe, was Gott in Christo Jesu vereint haben will. Darum muß diese erste Gefahr beseitigt werden, und die heilige Vertragsamkeit muß sich waffnen, ihr frommes Werk unter den Kindern Gottes zu thun. Weil aber Vertragsamkeit als bloße Frucht untergeordneterer Tugenden und Ursachen nicht gedacht werden darf, weil sie die Frucht der Liebe sein muß, dieser Erstgebornen unter allen Tugenden der Heiligen, so ermahnt St. Paulus im 14. Verse, wieder einmal, wie er so oft thut, zur Liebe. Und weil auch die Liebe, die Bruderliebe, ihren Boden haben muß, auf dem sie wächst, und dieser Boden kein andrer ist, als der Friede Christi, aus welchem alle Liebe der Heiligen erwächst, sintemal zur gegenseitigen Bruderliebe nicht gelangen können, die nicht zuvor Friede und Ruhe für ihre Seelen gefunden haben, so richtet der Apostel im 15. Verse in den Herzen der Colosser den Thron des Friedens auf. Vertragsamkeit, Liebe, Friede: diese drei sind nothwendig für die Kinder Gottes im Jammerthale der Welt, wenn sie mit einander ungehindert und ungemindert zu ihrem ewigen Ziele gelangen sollen. Damit aber die Pilgerfahrt recht im Schwange gehe, so muß es gehen wie in dem heiligen Land, wenn die Stämme hinauf zogen zum Fest in die heilige Stadt Jerusalem. Mit Gottes Wort, mit Gottes Lob und Dank, mit Lied, mit Sang und Klang zogen sie von Ort zu Ort, von Stadt zu Stadt, bis Zion. Auf diese Weise wurde am leichtesten Ordnung, Liebe und Friede unterhalten. Ebenso ziehen auch wir zum himmlischen Jerusalem. Deshalb vermahnt der Apostel im 16. Verse zu aller Herrlichkeit der neutestamentlichen Gottesdienste, zu Gottes Wort und Weisheit, zu Lehre und Vermahnung, zu Lob und Dank, zu Sang und Klang, und bleibt dabei nicht alleine stehen, sondern will im 17. Verse, daß unser ganzes Leben ein Gottesdienst sei, unsre Worte und Werke vor aller Welt mit dem Namen und Bekenntnis Jesu, mit Dank zu Gott durch Ihn geschmückt seien. Vertragsamkeit, Liebe, Gottes Friede im Herzen, gesegnete Gottesdienste in der Gemeine, Jesu Name, Bekenntnis und Dank im gesammten Leben, das sind die fünf Mittel, welche St. Paulus den Colossern benennt, damit sie durch dieselben die Gefahr überwinden sollen, welche den Heiligen Gottes vom Einfluß der Belialskinder droht. – Wir sind nicht in minderer Gefahr als die Colosser: wohlan, so laßt uns desto eifriger dieselben Mittel gebrauchen, welche der Apostel den Colossern in die Hände gibt, und damit wir sie wohl gebrauchen, so laßt uns dieselben etwas genauer kennen lernen, indem wir unsern Text betrachten.
In unsrer Epistel, ja nicht blos in ihr, sondern überhaupt in unserm Textcapitel, tritt ein paulinischer Gedanke mächtig hervor; wir finden ihn in den Briefen Pauli öfter, haben ihn auch in den bisherigen Episteln des Kirchenjahres schon aufgezeigt, begegnen ihm aber besonders im heutigen Texte in seiner ganzen Schönheit. Der heilige Paulus sieht nemlich das Leben des alten Adam und das des neuen Menschen in ihrem vollen Gegensatze einander gegenüber. Mitten inne zwischen beiden sieht er den Geist des Christen, dem eine Macht gegeben ist über dies doppelte Leben, sich des einen, natürlichen, anklebenden, sündlichen zu entledigen; das andre, neue, heilige aber sich anzueignen. Zu beidem ermahnt er die Christen, und wählt für diese Ermahnung das schöne Gleichnis vom Kleide, das man aus- und anziehen kann. Den alten Menschen, den alten Adam soll man ausziehen wie ein altes Kleid, und wie man ein neues, glänzendes Feierkleid anzieht, so soll man den neuen Menschen, das neue heilige christliche Leben anziehen. Es ist damit die göttliche Macht des neuen Geistes prächtig beschrieben. Von Natur kannst du nichts Gutes, gar nichts; aber du bist getauft, da vermagst du alles durch Den, der dich mächtig macht, Christus. Du wirfst von dir die alten Lumpen deines natürlichen Lebens, einen nach dem andern, vom Hemd bis zum Mantel: welch eine Gewalt übst du über das Böse! Du nimmst an dich Stück für Stück die Kleider und Waffen des Lichtes, und wie ganz anders erscheinest du als zuvor: welch eine Macht übst du da über die geistlichen Schätze deines Gottes! Wahrlich eine doppelte Macht, die wir uns nicht zuschreiben dürften ohne Gottes Wort, die wir uns aber kraft des göttlichen Wortes nicht blos beilegen und üben dürfen, sondern auch sollen, und eine schwere Verantwortung haben, wenn wirs nicht thun. Es ist nicht Uebermuth, es ist Gehorsam, wenn wir also
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/134&oldid=- (Version vom 1.8.2018)