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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Am fünften Sonntage nach dem Erscheinungsfeste.

Col. 3, 12–17.
12. So ziehet nun an, als die Auserwähleten Gottes, Heiligen und Geliebeten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demuth, Sanftmuth, Geduld; 13. Und vertrage einer den andern, und vergebet euch untereinander, so Jemand Klage hat wider den andern; gleichwie Christus euch vergeben hat, also auch ihr. 14. Ueber alles aber ziehet an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit. 15. Und der Friede Gottes regiere in euren Herzen, zu welchem ihr auch berufen seid in Einem Leibe, und seid dankbar. 16. Laßet das Wort Christi unter euch reichlich wohnen, in aller Weisheit; lehret und vermahnet euch selbst mit Psalmen und Lobgesängen, und geistlichen lieblichen Liedern, und singet dem Herrn in eurem Herzen. 17. Und alles, was ihr thut mit Worten oder mit Werken, das thut alles in dem Namen des Herrn Jesu, und danket Gott und dem Vater durch Ihn.

 DAs heutige Evangelium ist genommen aus Matth. 13, 24–30. Es handelt vom Unkraut im Acker, von der Vermengung der Gotteskinder und Belialskinder in der Welt. Dagegen aber legt uns die Epistel eine herrliche Ermahnung des Apostels Paulus an die Colosser vor, von der man bei dem ersten Einblick wohl sagen könnte, sie handle vom Gegentheil des Evangeliums, sie sei nichts anders, als eine Anweisung der Gemeindeglieder von Colossä, sich gegenseitig zu erbauen, und gegenseitig zu erhalten für das ewige Leben. Bedenkt man nun aber, daß diejenigen, welche die Textwahl vorgenommen, und auf uns gebracht haben, weise Menschen waren, welche gewis nichts ohne Absicht thaten, so müßen wir uns dadurch angereizt fühlen, auch die Absicht der Zusammenstellung zweier von einander so sehr verschiedenen Texte aufzufinden; und da ergibt sich denn auch sehr leicht der Gedanke, welcher die Väter bei Wahl und Zusammenstellung geleitet haben kann. Wenn denn die Welt eine Mischung von Gottes- und Belialskindern ist, und der Feind der Seligkeit am allerliebsten unter die Saat des HErrn unseres Gottes seine Kinder einsät; so entsteht für die Kinder Gottes eine große Gefahr: das Böse steckt an, weil es in allen Menschen Raum hat, weil auch in den Kindern Gottes Empfänglichkeit dafür vorhanden ist. Kains Same hat die Kinder der Patriarchen verderbt; Hams Einfluß hat die Geschlechter Sem und Japhet durchdrungen. Der Sauerteig versäuert den süßen Teig, nicht versüßt der gute Teig den Sauerteig. Da haben also zu allen Zeiten die Kinder Gottes zu fürchten, daß sie vom Bösen verschlungen werden, und was wird also aus dieser Gefahr für Rath und Klugheit für sie hervorgehen? Ohne Zweifel kein andrer Rath, keine andre Klugheit, als sich selbst desto enger zusammenzudrängen, und sich desto emsiger und eifriger zu halten und zu tragen und zu erbauen auf dem gemeinsamen Grund ihres allerheiligsten Glaubens. Und gerade das ist es ja, wozu der Apostel im epistolischen Texte vermahnt, so daß man wohl den Zusammenhang und Sinn der beiden heutigen Texte in den Satz zusammenfaßen dürfte: Weil die Kirche Gottes mitten unter den Haufen der Belialskinder durch diese Welt zu gehen hat, so sollen sich ihre Glieder mit allem Ernste zusammenhalten und in treuer gegenseitiger Seelsorge dahin streben, daß sie unverletzt und ungetrennt bis zu den Pforten des ewigen Lebens gelangen.

 Was unsern Text selbst anlangt, so ist er außerordentlich schön. Es ist ein seliger Fortschritt von einem Hauptgedanken zu dem andern, von einem Mittel der gegenseitigen Erbauung zu dem andern. Zuerst werden im 12. und 13. Verse diejenigen Tugenden den Christen eingeprägt, welche zur heiligen

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/133&oldid=- (Version vom 1.8.2018)