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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

ich Wächter auf der Zinne in meiner Zeit so ernst den Morgen verkünden, daß ich sage: Schon ist bald nicht mehr Zeit, vom Schlafe aufzustehen! Höchste Zeit ist’s, wer erwachen will! Bald geht der Morgennebel auf, der die Nacht noch einmal will bringen, der Nebel des Antichristus; aber die Sonne steigt, der Mittag kommt, es geht mit der Welt zur Vollendung! Ernste Zeit, ernste Jahre, alle Jahre ernsterer Advent, – ernste heilige, bedenkliche Adventzeit auch jetzt, meine Brüder, da wir dies Kirchenjahr, dies heilige Vorbereitungsjahr auf Christi Wiederkunft beginnen! Das beachtet und wer Ohren hat zu hören, der höre.


II.

 Kann man aber, lieben Brüder, die Zeit beachten, ohne sie zu benützen? Oder, wenn jemand die Zeit beachten wollte und nicht benützen, würde man ihn nicht im Widerspruche mit sich selber finden? Wirkt nicht die rechte Beachtung der Zeit so unzweifelig und unaufhaltsam auch die rechte selige Benützung, daß man fast den Ausdruck „die Zeit beachten“ gleichbedeutend mit dem anderen gebrauchen könnte „die Zeit benützen?“ Und hängt nicht die rechte Benützung der Zeit ganz und gar von der Erkenntnis und Beachtung derselben ab? Ich denke, meine Brüder, hierin sind wir einig, und ihr werdet es nicht bloß für erklärlich, sondern für gerechtfertigt finden, wenn ich bei einer solchen Verwandtschaft der Beachtung und Benützung unsrer Zeit, nachdem ich von der Beachtung gesprochen, auf die Benützung übergehe. Das fordert auch mein Text, und weil jeder Prediger und jede Predigt ein menschlicher Wiederhall ist für einen göttlichen Klang, so muß ich von der Benützung der Zeit zu euch reden.

 Die Nacht ist vergangen, der Tag ist nahe gekommen, Morgen ist es, früher Morgen zu St. Pauli Zeit, später Morgen jetzt. So stehts mit unsrer Zeit, und dem entspricht auch die Benützung. Weil die Nacht vorüber ist, und der Tag vorhanden, so erwacht man, und steht auf vom Schlafe. – Das ist eine wunderliche Sache mit dem Schlaf und dem Erwachen. Kein Mensch wird sagen, daß bloß das Auge den Einfluß der Nacht und des Tages erfährt, daß nur das Auge schläft und wacht. Es schläft, es wacht der ganze Mensch. Und doch äußert sich so Wachen wie Schlafen am kenntlichsten und mächtigsten im Auge und am Auge. Im Schlafe sieht einmal das Auge nicht; sehe im Menschen, was will, das Auge sieht nicht. Wenn aber der Mensch erwacht, dann sieht das Auge. Ein waches Auge ist des Morgens Zeichen, und das Auge schließen, wenn dir der Schlaf es nicht zudrückt, ist ein Beweis, daß du krank bist oder böse. Wenn du deine Zeit erkennst, daß es Morgen ist, mußt du Nacht und Schlaf und Traum nicht halten wollen, sondern sinken laßen, und mit hellem Auge deinen Tag anschauen. Das ist die erste nöthigste Benützung der Morgenstunde. Wolan denn! Die Nacht, von welcher hier die Rede ist, ist das Heidentum und die Abgötterei mit ihren heillosen Versuchen, die Seele mit etwas anderem zu sättigen, als mit dem lebendigen Gott, mit ihrem unseligen Bemühen, etwas anderes für recht und wahr zu finden, als Sein heiliges Wort. Ist’s bei dir Morgen und dein Auge offen, steckst du in keiner Weise in den Banden und Träumen der Dämonen und ihres Dienstes, so läßest du die Nacht versinken und erkennst, was kommt, den Tag, von welchem deine Zeit ein Morgen ist, das Reich des HErrn JEsus Christus, und Ihn selber, deinen HErrn. Es hat zu keiner Zeit sehr viele Menschen gegeben, die das aus der Ewigkeit hereinbrechende und am Ende die Welt und alles Heidentum ganz und völlig überwindende Reich des HErrn als das allein wesenhafte und wahre, als helles Sonnenlicht und alles andere als Nacht erkannten. Gar manche unter denen, die die Erkenntnis und das tageshelle Auge zu haben scheinen, haben es nicht in der Wahrheit. Es ist eine Seltenheit und ein großes Glück, wenn einem der Tag, der da kommt, und das ewige Reich des HErrn, das da kommt, durch’s Auge des Verstandes tief in die Seele hineinschaut, und der Abgrund des Geistes von der mächtigen, königlichen, herrschenden Ueberzeugung ihrer nahenden Zukunft bewältigt wird. Es ist wahrlich nichts mit allen Abgöttereien und ist kein Gott, als der eine, der dreieinig ist, und am Ende auch keine Familie, kein Staat, keine Kirche, als allein das geistliche Königreich der Kinder Gottes und ihres Hauptes Christus. Warum aber ist diese Ueberzeugung und dies selige Glück so selten, da doch die Nacht des Heidentums dahin eilt und verwelkt vor der kommenden Sonne des jüngsten Tages und in den Gnaden

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 004. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/11&oldid=- (Version vom 1.8.2018)