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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

wir in einem Leibe viele Glieder haben, aber alle Glieder nicht einerlei Geschäft haben, also sind wir viele Ein Leib in Christo, aber unter einander ist einer des andern Glied und haben mancherlei Gaben nach der Gnade, die uns gegeben ist.“ Auch bei dieser Darstellung geht der Apostel, wie in andern Stellen, die von der Kirche reden, ganz von der Einheit der unsichtbaren und sichtbaren Kirche aus. Er weiß sehr wol, daß eigentlich zur Kirche nur die wahrhaft Gläubigen gehören, aber er behandelt alle sichtbaren Glieder der Kirche in so lange als wahre Glieder, als nicht durch das Misglücken der bruderlichen Zucht an dem oder jenem der handgreifliche Beweis gegeben ist, daß er kein Glied der Kirche sei. Wie könnte das auch von einem praktischen Manne anders geschehen, zumal wenn man das Verhältnis des Einzelnen zur Kirche darzustellen im Begriff ist. Kann ich denn zur unsichtbaren, d. h. meiner Wahrnehmung entzogenen, mir unbekannten Kirche in ein Verhältnis treten, muß nicht alles, was Geist heißt, wenn es dem mit einem Leibe verbundenen Menschengeiste bemerklich werden soll, selbst irgendwie leiblich werden? Mit einer unsichtbaren Kirche, welche sich in der sichtbaren verbirgt, kann ich in keine mir bewußte Gemeinschaft treten, wol aber mit einer solchen unsichtbaren Kirche, die sich mir sichtbar macht, mit einer sichtbaren Kirche, die ich für den Leib der unsichtbaren nehmen kann und in welcher ich die unsichtbare Kirche als vorhanden begrüßen darf. Kurz, die Lehre von der unsichtbaren Kirche ist zum Troste für die Zeiten und Orte aufgefunden, wo sich offenbar die Kirche im Verfall befindet und unter dem Haufen der Gottlosen und Maulchristen verborgen ist, nicht aber zu einer Grundlage des Verhaltens eines Gliedes zum andern, oder zur ganzen Kirche. Die Kirche ist allerdings Ein Geist, wie das die heilige Schrift mehrfach bezeuget, aber sie ist auch Ein Leib, und schon dieser Ausdruck deutet auf die Notwendigkeit hin, daß die Kirche sichtbar werden muß, damit ich sie sehen und finden und faßen und mich als Glied des Ganzen erkennen kann. Sehen wir das ein, so werden wir auch schnell erkennen, wie man jeden einzelnen Christen in seinem Verhältnis zur ganzen Kirche auffaßen müße. Kein einzelner Christ ist selbst ein Ganzes, sondern ein Teil, ein Glied der Kirche, deßen Beruf es auch ist, sich als Glied und Teil zu erkennen. Kein einzelner Christ hat alle Gaben des heiligen Geistes; nur Christus hat den Geist ohne Maß, wir aber haben ihn nach dem Maße, in welchem er durch göttliches Erbarmen einem jeden zugeteilt ist. Jeder hat seine Gabe, die er empfangen hat, um sich mit derselben als Glied des großen Ganzen zu erweisen, den andern Gliedern und eben damit dem Ganzen zu nützen. Gleichwie das Auge das Ohr bedarf, die Hand den Fuß und jedes Glied das andre, eine Hand die andre wäscht, ein Fuß den andern vorwärts bringt, die Hand dem ganzen Leibe Handreichung, der Fuß dem ganzen Leibe Gänge thut, alle Glieder von einander, der Leib von den Gliedern und die Glieder vom Leibe abhangen, so kann auch in der Kirche kein Christ den andern entbehren, weil jeder die Gabe des andern bedarf und dem ganzen Leib nur dann wol ist, wenn alle Glieder den ihnen befohlenen Dienst thun und ein jedes seine Gabe erweist. Wer freilich in einer Gemeinde lebt und den Sinn Kains haben und behalten will, der nach seinem Bruder nicht fragte und deßen Hüter nicht sein wollte, der wird wenig Freude an einer solchen Lehre haben. Was kümmert der sich um die Kirchgemeinde; die ist ihm kein Leib, sondern ein zufällig zusammengewürfeltes Ganzes, das so wenig verliert, wenn er sich nicht zu ihm hält, als er selbst, wenn er sich von ihm scheidet, oder nicht richtig zu ihm verhält. Die Anerkennung dieser heiligen Lehre von der Kirche als einem Leibe mit vielen Gliedern ist eine Sache der Liebe, und wer keine Liebe hat, für den ist die ganze Lehre nichts, für den ist aber auch die Kirche selbst nichts, und der kann allerdings auch kein Interesse haben, darnach zu fragen, in welchem Verhältnis er zur Kirche steht. Hat hingegen jemand unter euch so viel Liebe, als man bedarf, um die Lehre von der Kirche zu erkennen, der wird nach dem Gesagten schnell belehrt sein, welches sein Verhältnis zur Kirche sei. Der Apostel gibt dazu auf Grund der Lehre von dem Leib und seinen Gliedern die schönste Anweisung im dritten Vers des Textes, in dem er spricht: „Ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, einem jeden, der unter euch wohnt, daß er nicht übermäßig halte neben dem Maß hin, darnach er halten soll, sondern daß ein jeder von sich also denke, daß es mäßiglich und gesund sei, so wie Gott einem jeden das Maß des Glaubens

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 094. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/101&oldid=- (Version vom 1.8.2018)