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Darauf rief das Wedelmädchen zur Tür hinaus nach ihrem Mann: „Komm her! Ich will dir meinen dritten Bruder vorstellen.“

Da kam Li Dsing herbei und begrüßte ihn.

Dann setzte man sich zusammen, und der Fremde fragte: „Was habt ihr denn für Fleisch?“

„Hammelbeine“, war die Antwort.

„Ich bin recht hungrig“, sprach der Fremde.

Li Dsing ging auf den Markt, um Wein und Brot zu kaufen. Der Fremde zog seinen Dolch hervor, schnitt das Fleisch auf, und sie aßen zusammen. Als sie fertig waren, da fütterte er mit dem übrigen Fleisch das Maultier.

Dann sprach er: „Der Herr Li scheint mir auch ein armer Ritter zu sein. Wie kommt Ihr denn mit meiner Schwester da zusammen?“

Li Dsing erzählte, was sich zugetragen hatte.

„Und wo wollt ihr denn jetzt hin?“

„Nach Taiyüanfu“, war die Antwort.

Der Fremde sprach: „Ach, mach mir doch noch eine Schüssel Wein zurecht! Ich hab da eine Würze für den Wein, und ihr könnt mit halten.“

Damit öffnete er den Ledersack und nahm daraus einen Menschenkopf und Herz und Leber hervor. Dann zerschnitt er mit dem Dolch das Herz und die Leber und tat sie in den Wein.

Li Dsing war entsetzt.

Aber der Fremde sprach: „Das war mein schlimmster Feind. Zehn Jahre lang hab ich den Haß mit mir herumgetragen. Heute hab ich ihn umgebracht, und es reut mich nicht.“

Dann sprach er weiter: „Ihr scheint mir kein gewöhnlicher Kerl zu sein. Habt Ihr davon gehört, daß es hier in der Nähe irgendwo einen Helden gibt?“

Li Dsing antwortete: „Ja, ich weiß wohl einen, dem scheint die Herrschaft vom Himmel bestimmt zu sein.“

„Und wer ist das?“ fragte der andere.

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 262. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_262.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)