Seite:Wilhelm ChinVolksm 193.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

sah in einer fernen Gasse einen Mann mit zwei Eimern auf der Schulter allmählich herankommen. Er sah genauer hin, da war es der Mistträger. Aufs äußerste erschrocken, dachte er, er komme, um sich an dem alten Wang zu rächen. Doch ging er an der Tür des Alten vorbei, ohne einzutreten. Er ging einige Schritte weiter bis zum Haus der Familie Li; da ging er hinein. Die Lis waren reiche Leute, und als nahe Nachbarn pflegten die Familien einander zu besuchen. Die Sache kam ihm bedenklich vor; er machte sich auf, ihm nachzugehen.

Vor dem Tor der Familie Li begegnete er einem alten Diener, der herauskam und sagte: „Unsre Frau sieht ihrer Niederkunft entgegen. Es ist sehr dringend. Ich will eben eine Hebamme holen.“

Er fragte ihn: „Ist nicht gerade eben ein Mann mit zwei Eimern zu euch gekommen?“

Der Diener verneinte. Noch ehe sie ausgeredet hatten, kam eine Magd aus dem Haus und sprach: „Ihr braucht die Hebamme nicht mehr zu rufen, die Frau ist eben mit einem Knaben niedergekommen.“ Da ging es dem Ma auf, daß der Mistträger gekommen war, um wiedergeboren zu werden, nicht um sich zu rächen. Nur verwunderte er sich, womit der Mistträger es verdient habe, in einer so reichen Familie geboren zu werden. Er behielt die Sache im Auge und erkundigte sich nach dem Ergehen des Knaben.

Wieder waren sieben Jahre vergangen, und der Knabe wuchs allmählich heran. Er hatte keine Lust am Lernen; doch liebte er es, Vögel zu halten. Der alte Wang war noch immer gesund und rüstig. Er war nun mehr als achtzig Jahre alt, und mit dem Alter hatte seine Liebe zu den Chrysanthemen noch zugenommen.

Eines Tages war Ma wieder einmal frühe aufgestanden und lehnte an seinem Fenster. Da stieg der alte Wang auf seine Terrasse und begoß seine Chrysanthemen. Der kleine Li saß im oberen Stock seines Hauses und ließ seine Tauben fliegen. Plötzlich flogen einige Tauben auf das Geländer

Empfohlene Zitierweise:
Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 193. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_193.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)