Seite:Wilhelm ChinVolksm 146.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Der Gelehrte verwunderte sich darob und dachte in seinem Herzen: „Solch ein kleines Schlänglein! Wie kann das Götterkraft besitzen! Es müßte erst seine Macht beweisen, ehe ich es verehre.“

Noch hatte er diese geheimen Gedanken nicht ausgesprochen, da sah er plötzlich, wie das Schlänglein in der Schale den Kopf über den Altar herausstreckte. Vor dem Altar brannten zwei riesige Kerzen. Sie waren über zehn Pfund schwer und dick wie kleine Bäume. Ihr Feuer brannte wie Fackelschein. Die Schlange streckte nun den Kopf mitten in die Kerzenflamme hinein. Die Flamme war wohl einen Zoll breit und brannte rot. Plötzlich wurde ihr Schein blau und teilte sich in zwei Zungen. So riesig war die Kerze und so heiß das Feuer, daß auch Kupfer und Eisen darin geschmolzen wären; aber der Schlange tat es nichts.

Dann kroch sie in den Weihrauchkessel. Der Weihrauchkessel war von Eisen, so groß, daß man ihn mit beiden Armen eben umfassen konnte. Der Deckel zeigte in durchbrochener Arbeit ein Drachenornament. Die Schlange kroch durch die Löcher dieses Deckels hin und her und wand sich durch alle durch, so daß es aussah wie eine Stickerei von Goldfäden. Schließlich waren alle Öffnungen des Deckels, groß und klein, von der Schlange durchzogen. Sie mußte sich dazu wohl mehrere Dutzend Fuß lang gemacht haben. Dann streckte sie den Kopf oben heraus und sah dem Schauspiel weiter zu.

Da erschrak der Gelehrte, verneigte sich zweimal und betete: „Großer König, du hast dich meinethalb bemüht. Ich ehre dich von Herzen.“

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, da war im Augenblick das Schlänglein wieder in der Schale und war so klein als wie zuvor.


In Dsiningdschou wurde im Tempel des Flußgottes Geburtstag gefeiert. Man brachte dem Gott als Geburtstagsgeschenk

Empfohlene Zitierweise:
Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 146. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_146.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)