Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Gewinn größer ist als der Verlust. Beim zweiten Hauptsatz ist die Frage längst zu seinen Gunsten entschieden. Das Eindringen der Physik in die molekulare und atomistische Struktur der Materie fordert gebieterisch die Anwendung statistischer Methoden, ohne die eine theoretische Bewältigung des ganzen Gebietes ausgeschlossen gewesen wäre. Das Herausheben der atomistischen Vorgänge in der Physik hat den Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen eine ganz außerordentliche Bedeutung verliehen. Insbesondere stellt sich die neuere Quantentheorie auf den Standpunkt, daß die Naturgesetze nur statistisch, d. h. beim Zusammenwirken vieler einzelner Atome gelten, während die wirklichen, für die Naturelemente geltenden Gesetze noch größtenteils unbekannt sind. Da das Gesetz von der Erhaltung der Energie eine Folge der mechanischen und elektromagnetischen Gesetze ist, so muß die weittragende Frage aufgeworfen werden, ob die Erhaltung der Energie auch nur statistischen Charakter hat. Es ist nicht zu leugnen, daß die Gefahr einer Überwucherung der Statistik besteht und daß das Endziel der theoretischen Physik, das Erkennen der endlichen kausalen Zusammenhänge außer Acht gelassen wird.

Das Aufgeben bisher als sicher angenommener Voraussetzungen fordert nun auch die Relativitätstheorie. Um nämlich das negative Ergebnis des Michelsonschen Versuchs zu erklären, muß sie eine Abhängigkeit der Länge eines festen Körpers von seiner Geschwindigkeit annehmen, die aber nur ein ruhender Beobachter bemerken kann. Es ist das die sogenannte Lorentz-Verkürzung[1] durch die zum ersten Male jene eigentümliche Relativität der Maßstäbe eingeführt wurde, die dann in der Relativitätstheorie eine so große Rolle gespielt hat. Es läßt sich nicht leugnen, daß die Einführung solcher Annahmen etwas künstliches hat, woran die natürliche Denkweise Anstoß nehmen muß. Man fragt sich unwillkürlich weshalb der Natur soviel an der Relativität gelegen sei, daß sie so künstliche Einrichtungen getroffen habe.

Wenn man diese Verkürzung eines Maßstabs durch die Bewegung einem ruhenden Beobachter gegenüber zugibt, so findet der Michelsonsche Versuch seine Erklärung d. h. die Verkürzung


  1. [32] 4) Die Lorentzverkürzung ist ebenso wie die Veränderung der Zeit durch die Bewegung in der Lorentztransformation (vgl. 1) enthalten.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Wien: Die Relativitätstheorie vom Standpunkte der Physik und Erkenntnislehre. Johann Ambrosius Barth, Leipzig 1921, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:WienRel.djvu/9&oldid=- (Version vom 1.8.2018)