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von ihrer mathematischen Gestalt zu trennen. Die letztere, die das Interesse der Mathematiker in hohem Grade erregt hat, wird als eine Anwendung und Weiterbildung der vierdimensionalen nichteuklidischen Geometrie ihre Bedeutung behalten, selbst wenn die physikalische Theorie wieder aufgegeben oder wesentlich verändert werden sollte.

Es besteht allerdings eine Gefahr, daß die mit der eigentlichen, auf die Physik beschränkten, Relativitätstheorie nicht genügend vertraut sind, mehr aus ihr zu folgern und eine allgemeine Relativität unseres Denkens überhaupt abzuleiten suchen. Wir würden damit um mehr als zweitausend Jahre rückwärts gehen und wieder bei den griechischen Sophisten anlangen. Die Relativität aller Urteile ist schon von Protagoras gelehrt worden, der schließlich bei dem echt sophistischen Standpunkt anlangte, daß man jeden Satz und ebensogut sein Gegenteil verfechten könne. Man müsse nur immer den geeigneten Standpunkt einnehmen. Ich weiß nicht, ob die Vertreter einer modernen relativistischen Anschauung soweit gehen wollen. Aber eins ist sicher, daß alle solche Gedankengänge der physikalischen Denkweise geradeswegs zuwiderlaufen. Die physikalischen Denker haben allmählich mit Aufwendung der größten Geistesschärfe erreicht, daß der geocentrische und anthropomorphe Standpunkt verlassen wurde. Jetzt kann man es geradezu als die Grundlage des physikalischen Denkens bezeichnen, die subjektive Auffassung des Menschen auszuschalten und zu den unveränderlichen, von menschlicher Betrachtungsweise unabhängigen, Naturgesetzen vorzudringen. Allerdings brauchen wir für die Naturerkenntnis die Vernunft, also eine menschliche Eigenschaft.

Aber durch die Erfolge der physikalischen Betrachtungsweise sind wir mit der Zeit zu der Einsicht gelangt, daß logische Folgerungen aus den Naturgesetzen und das wirkliche Geschehen soweit in Übereinstimmung stehen, daß eine objektive Naturerkenntnis möglich ist. Die psychologischen Gesetze, die letzten Endes auch natürliche sind, sind solche, daß zwischen Logik und Naturgeschehen Übereinstimmung herrscht. Wenn wir diese Erkenntnis aufgeben und wieder zur sophistischen Auffassung nur relativer Erkenntnis zurückkehren, so geben wir damit die Grundlage des physikalischen Denkens auf. Die Physiker müssen sich daher in erster Linie

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Wilhelm Wien: Die Relativitätstheorie vom Standpunkte der Physik und Erkenntnislehre. Johann Ambrosius Barth, Leipzig 1921, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:WienRel.djvu/26&oldid=- (Version vom 1.8.2018)