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schrie ihm der Narr nach. Der Krämer trug dem Flagellanten sein Anliegen vor, er wolle, um seine Sünde abzubüßen, sich der Geißlerfahrt anschließen.

„Recht so, mein Sohn,“ sagte der Geißler würdevoll und sah ihm forschend in das blasse Gesicht. „Kennst Du die Bedingungen? – Nicht? – Nun, so höre: Zu 34 Tagen mit je 3 Geißelungen mußt Du Dich verpflichten.“ –

„Tun’s 12 Tage nicht auch?“ fragte der junge Mann erschrocken.

„Nein, 34 müssen’s sein. Weiter: Mit keiner Frau darfst Du reden.“

„Ist mir recht,“ meinte Veit.

„Bringe für jeden Tag 4 Groschen Zehrgeld!“ Der Krämer fuhr zurück. „Nein, frommer Mann,“ sagte er, „soviel habe ich nicht. Ich wußte gar nicht, daß Bußetun so teuer ist.“ – Damit lief er eiligst davon. –

Als Mirjam nach einigen Stunden erwachte, lag sie auf einem weichen Lager in einem Kämmerchen. An der gegenüberliegenden Wand hing ein Kruzifix, zu dessen Füßen ein Lämpchen ruhig brannte. Ihre Stirn war sauber verbunden, es hämmerte ihr in den Schläfen und rauschte in den Ohren. Durch die offene Tür sah sie einige Kranke liegen, und Vater Heinrich bemühte sich um jeden, dem einen legte er das Kissen glatt und dem andern reichte er einen Trunk Wasser. Als Vater Heinrich das Erwachen Mirjams bemerkte, kam er sogleich lautlos herüber und beugte sich mit unendlich gütigem Lächeln zu ihr nieder.

„Bin ich im Pesthaus?“ fragte Mirjam beklommen. „Ja,“ entgegnete Vater Heinrich ernst, „aber fürchte Dich nicht!“ Er wies auf das Kruzifix hin: „Er errettet Dich von dem Strick des Jägers, vor der schädlichen Pestilenz. Er wird dich mit seinen Fittichen decken. Ob tausend fallen zu Deiner Seite, so wird es doch Dich nicht treffen.“

Mirjam hörte ihm zu mit glänzenden Augen, es wurde ihr wunderbar friedlich um’s Herz. Das Lämpchen flackerte auf, und über das milde Antlitz des Gekreuzigten flog der Schein wie ein Lächeln, und Mirjam streckte die Hände nach ihm aus. Dann schlief sie mit einem Lächeln auf den Lippen ein.

Mirjams Wunde heilte bald, aber sie blieb im Pesthaus und wurde Vater Heinrichs treue Gehilfin. Täglich kamen neue Kranke, und viele holte der Schwarze Tod in’s Grab. Wie ein guter Engel waltete Mirjam ihres Amtes, und mancher Kranke und Sterbende segnete das Judenmädchen. Ihre Kraft und Freudigkeit wuchsen mit der Anstrengung, ihre Augen brauchten immer weniger Schlaf. – Eines Tages klopfte es an die Türe des Pesthauses. Mirjam öffnete. Da standen Veit Winkler und ein anderer Mann draußen mit einem Kranken auf der Bahre. Veit glaubte, einen Geist zu sehen und stotterte verlegen einen Gruß. Das Mädchen wandte sich um und sagte:

„Seht, Vater Heinrich, unser Haus wird voll, wenn uns doch jedem noch zwei Hände wüchsen!“ – „Bringt den Mann herein!“ sprach sie freundlich zu den beiden Trägern. Aber der eine entsetzte sich und sagte: „Ist es nicht genug, daß ich den Halbtoten bis hierher gebracht habe? Der Schwarze Tod holt uns noch alle zeitig genug.“ Schaudernd lief er fort. Veit Winkler aber ging mit hinein, und staunend sah er, wie Mirjam dem Kranken ein gutes Lager bereitete, wie sie seine Wunden wusch, die kalten Hände rieb und ihm warmen Tee einflößte. Dazwischen vergaß sie die anderen Kranken nicht, für jeden hatte sie einen freundlichen Blick und ein tröstendes Wort. Veit faßte sich ein Herz und sagte schüchtern zu Vater Heinrich: „Ich bitte Euch, versucht es mit mir, nehmt mich als Euren

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Friedrich Bernhard Störzner: Was die Heimat erzählt. Arwed Strauch, Leipzig 1904, Seite 517. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Was_die_Heimat_erz%C3%A4hlt_(St%C3%B6rzner)_517.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)