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in die Täler hinab, und die Bewohner umher schöpften besonders am Morgen des Costra- oder Ostertages, am Hochfeste der Gefeierten, vor Sonnenaufgang das flüssige Kristall, wuschen sich mit diesem Costrawasser, tauchten sich selbst und ihre Hände in das tags vorher sorgfältig angedämmte und aufgeschützte Ostrabad, damit neue Kraft ströme in die ermatteten und kranken Glieder. Oft umschauerte tiefes Schweigen bei nächtlicher Stille den heiligen Ort, und dann umschwärmten gespenstische Wesen die Gegend. Dunkle Schwarzelfen schweiften scheu umher oder übten sich im nahen Erlicht mit gaukelnden Irrwischflammen in seltsamen Tänzen, während Erlkönig sein rabenschwarzes Haar über dunkeln Moor hinter alternden Baumstöcken hervorstreckte. Zwerghafte Kobolde äfften die goldgierigen Späher, zeigten ihnen ihre Schätze und ließen solche, im Begriffe des Erraffens, mit schalkhaftem Gelächter wieder tief in die Bergspalte hinabrollen, um sie auf’s Neue mit huschenden Flammen aufbrennen zu lassen. Doch auch gutmütigere Bergmännchen streuten nicht selten echte Goldkörner umher oder ließen solche auf dem glänzenden Sande dieses Goldflüßchens und mit den ersten Wellen des Alczstraflusses (Elsterflusses) in’s Tal rollen, um solche den Bewohnern der Gegend zuzuführen, wenn sie nicht vorher schon wieder durch verschmitzte Nixen, welche die benachbarten kleinen Seen bewohnten, aufgefischt wurden, um solche als Lockspeise für Leichtgläubige und Kinder zu benutzen, welche sich zu tief hinab beugend, in ihre Netze gerieten. Oft durchzog auch bei Sturm und Graus, unter tobendem Lärm und Rüdengebell, das ganze Heer der wilden Jagd um Mitternacht den Forst; brausende Stürme stürzten ihm nach und wühlten in den Wipfeln der hohen Fichten. In die fernsten Gaue drang die Kunde dieses wundersamen Hains, in welchem geweihte Priesterinnen, Alrunen, der Menschen Schicksale voraussagten, Glück und Unglück prophezeiten, in den weit in die Gebirge eindringenden Felshöhlen wohnten und den Göttern dienten.“ –

Mit dieser Sage hängt wohl auch der Name dieses Berges zusammen. Der Sibyllenstein soll seinen Namen den Sibyllen, altheidnischen Priesterinnen und weissagenden Frauen, verdanken. Unter Sibyllen verstand man im Altertume von einer Gottheit begeisterte und weissagende Frauen. Sie werden stets als Jungfrauen geschildert, die in einsamen Grotten und Höhlen oder an „begeisternden Quellen“ wahrsagten und beim Volke im höchsten Ansehen standen. Man nannte sie auch Alrunen. In den Höhlen des Sibyllensteines hielten diese Frauen sich auf. Droben auf dem hohen Felsenaltar brachten sie der Göttin Costra oder Ostera die Opfergaben des Volkes dar. An diese Göttin, welche auf dem Sibyllensteine von den Umwohnern verehret wurde, erinnert jedenfalls das eine Stunde östlich vom Berge entferntliegende Dorf Ostro, ganz wahrscheinlich auch der Name des Flusses Elster und der Stadt Elstra. – Preusker schreibt über den Namen dieses Berges folgendes: „Ob der Sibyllen Name aus früheren Zeiten stammt, ist ungewiß, wenigstens kommt er schon im vorigen Jahrhunderte in Büchern und Karten vor. Er braucht aber nicht vom Lateinischen hergeleitet zu werden, da nach Grimm auch in nordischen Sagen eine weise Frau Sibil und eine heilige Kuh in Schweden Sybilja hieß.“ –

Der alte Gebrauch, das Schöpfen des Osterwassers, hat sich bis in unsere Tage herauf erhalten. – An dem östlichen Fuße des Sibyllensteines liegen die beiden Dörfchen Kindisch und Rauschwitz. Die Bewohner dieser Orte begaben sich noch vor wenigen Jahrzehnten alljährlich am

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Friedrich Bernhard Störzner: Was die Heimat erzählt. Arwed Strauch, Leipzig 1904, Seite 240. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Was_die_Heimat_erz%C3%A4hlt_(St%C3%B6rzner)_240.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)