war, einen architektonisch einwandfreien Bau zu errichten, wenn er nur den von der ganzen Generation gepflegten und allgemein anerkannten künstlerischen Überzeugungen folgte, oder mit anderen Worten gesagt, wenn sein Werk der Tradition entsprach. Diese baukünstlerische Überlieferung ist uns im neunzehnten Jahrhundert verloren gegangen. Die Architektur hat wie ein vom Sturme getriebenes hilfloses Schiff den sicheren Kurs verloren und folgt jeder vom Zeitgeschmack für gut gehaltenen Richtung.
So ist der größte Mangel unserer Baukunst das Fehlen jeder künstlerischen Auffassung bei der inneren und äußeren Gestaltung unserer Baulichkeiten. Nur wenn dem schaffenden Architekten eine klare räumliche Vorstellung des ganzen Bauwerkes im Geiste vorgeschwebt hat, wird er eine gute künstlerische Leistung zuwege bringen. Denn die Architektur ist in erster Linie eine Raumkunst, das ist die Fähigkeit, Innen- und Außenräume nach gewissen architektonischen Grundsätzen zu gliedern. Welche räumliche Vorstellung können wir uns aber von einem heutigen Wohnhause oder etwa vom Innern einer modernen Mietwohnung machen? In den meisten Fällen gar keine! Die Baukünstler des achtzehnten Jahrhunderts dagegen gingen bei ihren Arbeiten stets von dieser räumlichen Vorstellung aus. Die regelmäßige Durchbildung des Innenraumes und damit des ganzen Grundrisses war für sie ebenso wichtig wie die Gestaltung der Schauseite. Nach den insbesondere durch Jacques François Blondel vertretenen Lehren der französischen Bauakademie wurde zuerst jeder Einzelraum als ein in sich abgeschlossenes harmonisches Ganzes behandelt, und in der Folge der Grundriß wieder als eine wohlgeordnete Zusammensetzung vieler solcher Räume weitergebildet. So war der Grundriß allein schon ein Kunstwerk, dessen äußere Verkörperung eine ebenfalls nach bestimmten Regeln der Architektur entwickelte Schauseite bildete.
Wie Blondel gingen auch Briseux und Boffrand von den gleichen Grundsätzen aus, die wieder deutsche Architekten, so Sturm und Fäsch, in ihre Lehrbücher aufnahmen. Wir sahen, daß in Dresden neben Zacharias Longuelune besonders Knöffel in seinen Bauten den französischen Geschmack zum Ausdruck brachte. La bienséance und la commodité, die Hauptforderungen Cordemoys und Blondels, waren hierbei die leitenden Gesichtspunkte. Infolge der wesentlich gesteigerten Anforderungen inbezug auf die Anzahl
Walter Mackowsky: Erhaltenswerte bürgerliche Baudenkmäler in Dresden. Verlag von C. Heinrich in Dresden-N., Dresden 1913, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Walter_Mackowsky_Baudenkm%C3%A4ler.djvu/66&oldid=- (Version vom 25.11.2024)