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und tief genug zum Empfang solcher späten Flüchtlinge wäre...“

Und Tostoi läßt einen landschaftlichen Eindruck zu Musikempfindung werden, wenn er in „Luzern“ schreibt:

„Weder auf dem See, noch an den Bergen, noch am Himmel eine einzige gerade Linie, eine einzige ungemischte Farbe, ein riesiger Ruhepunkt - überall Bewegung, Unregelmäßigkeit, Willkür, Mannigfaltigkeit, unaufhörliches Ineinanderfließen von Schatten und Linien, und in allem die Ruhe, Weichheit, Harmonie und Notwendigkeit des Schönen.“

Wird diese Musik jemals erreicht?

„Nicht alle erreichen das Nirwana; aber jener, der von Anfang an begabt, alles kennenlernt, was man kennen soll, alles durchlebt, was man durchleben soll, verläßt, was man verlassen soll, entwickelt, was man entwickeln soll, verwirklicht, was man verwirklichen soll, der gelangt zum Nirwana."[1] (Kern, "Geschichte des Buddhismus in Indien")[WS 2].

Ist Nirwana das Reich „Jenseits von Gut und Böse“, so ist hier ein Weg dahin gewiesen. Bis an die Pforte. Bis an das Gitter, das Menschen und Ewigkeit trennt - oder das sich auftut, das zeitlich Gewesene einzulassen. Jenseits der Pforte ertönt Musik. Keine Tonkunst.[2] Vielleicht, daß wir erst selbst die Erde verlassen müssen, um sie zu vernehmen. Doch nur dem Wanderer, der der irdischen Fesseln unterwegs sich zu entkleiden gewußt, öffnet sich das Gitter.


  1. Wie auf Verabredung schreibt mir dieser Tage (1906) Mr. Vincent d'Indy: ...laissant de côté les contingences et les petitesses [WS 1] de la vie pour regarder constamment vers un idéal, qu’on ne pourra jamais atteindre, mais dont il est permis de se rapprocher.“
  2. Ich glaube gelesen zu haben, dass Liszt seine Dante-Symphonie auf die beiden Sätze „Inferno“ und „Purgatorio“ beschränkte, [WS 3] „weil unsere Tonsprache für die Seligkeiten des Paradieses nicht ausreichte“.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. in der Vorlage fälschlich: patitesses
  2. Heinrich Kern, Geschichte des Buddhismus in Indien in zwei Bänden: Haarlem 1882 und 1884; Deutsch von Hermann Jacobi, Leipzig 1882 und 1884
  3. Eine Symphonie zu Dantes Divina Commedia für Orchester und Frauenchor, 1856-57 geschrieben, besteht allerdings aus drei Sätzen, wobei der dritte Satz mit Magnificat überschrieben ist, was allgemein als der Teil "Paradiso" erachtet wird.
Empfohlene Zitierweise:
Ferruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Leipzig: Philipp Reclam jun., 1983, Seite 81. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Von_der_Macht_der_Toene.djvu/035&oldid=- (Version vom 1.8.2018)