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- wie alles - mit den Zeiten seine Ausdrucksformen. Das heißt: eine oder die andere Seite des Gefühls wird zu der einen oder der anderen Zeit bevorzugt, einseitig gepflegt, besonders herausgekehrt.

So war mit und nach Wagner eine schwelgerische Sinnlichkeit an die Reihe gekommen: die Form der „Steigerung“ im Affekt haben die Komponisten noch heute nicht überwunden. Jedem ruhigen Beginnen folgt ein rasches Aufwärtstreiben. Der darin unersättliche aber nicht unerschöpfliche Wagner verfiel notgedrungen auf den Ausweg, nach einem erreichten Höhepunkte wieder leise anzusetzen, um sofort von neuem anzuwachsen.

Die neueren Franzosen zeigen eine Umkehr: ihr Gefühl ist eine reflexive Keuschheit, vielleicht mehr noch eine zurückgehaltene Sinnlichkeit: den bergigen aufsteigenden Pfaden Wagners sind monotone Ebenen von dämmernder Gleichmäßigkeit gefolgt. So bildet sich im Gefühl der „Stil“, wenn der Geschmack es leitet.

Die „Apostel der Neunten Symphonie“ ersannen in der Musik den Begriff der Tiefe. Er steht noch in vollem Werte, zumal im germanischen Land. Es gibt eine Tiefe des Gefühls und eine Tiefe des Gedankens: die letztere ist literarisch und kann keine Anwendung auf Klänge haben.

Die Tiefe des Gefühls ist hingegen seelisch und der Natur der Musik durchaus zugehörig. Die Apostel der Neunten Symphonie haben von der Tiefe in der Musik eine besondere und nicht ganz festumrissene Schätzung. Die Tiefe wird zur Breite, und man trachtet, sie durch Schwere zu erreichen: sie zeigt sich sodann - durch Gedankenassoziationen - in der Bevorzugung der „tiefen“ Register und (wie ich beobachten konnte) auch in einem Hineindeuten eines zweiten, verborgenen Sinnes, meist eines literarischen. Wenn auch nicht die einzigen Merkmale, so sind doch diese die bedeutsameren.

Unter Tiefe des Gefühls dürfte jedoch jeder Freund der Philosophie das Erschöpfende im Gefühl betrachten: das volle Aufgehen in einer Stimmung. Wer mitten in einer echten, großen karnevalischen Situation griesgrämig oder auch nur indifferent herumschleicht, wer nicht von der gewaltigen Selbstsatire des Masken- und Fratzentums, der Macht der Unbändigkeit über die Gesetze, dem freigelassenen Rachegefühl des Witzes mitgerissen wird, der

Empfohlene Zitierweise:
Ferruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Leipzig: Philipp Reclam jun., 1983, Seite 67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Von_der_Macht_der_Toene.djvu/021&oldid=- (Version vom 1.8.2018)