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selbst unbewußt frei aufzuatmen schienen. Selbst einen so viel kleineren Schumann ergreift an solchen etwas von dem Unbegrenzten dieser Pan-Kunst - man denke an die Überleitung zum letzten Satze der D-Moll-Sinfonie[WS 1] -, und Gleiches kann man von Brahms und der Introduktion zum Finale seiner ersten Sinfonie[WS 2] behaupten.

Aber sobald sie die Schwelle des Hauptsatzes beschreiten, wird ihre Haltung steif und konventionell wie die eines Mannes, der in ein Amtszimmer tritt.

Neben Beethoven ist Bach der „Ur-Musik“ am verwandtesten. Seine Orgelfantasien (und nicht die Fugen) haben unzweifelhaft einen starken Zug von Landschaftlichem (dem Architektonisch Entgegenstehenden), von Eingebungen, die man „Mensch und Natur“ überschreiben möchte;[1] bei ihm gestaltet es sich am unbefangensten, weil er noch über seine Vorgänger hinwegschritt - (wenn er sie auch bewunderte und sogar benutzte) - und weil ihm die noch junge Errungenschaft der temperierten Stimmung vorläufig unendlich neue Möglichkeiten erstehen ließ.

Darum sind Bach und Beethoven[2] als ein Anfang aufzufassen und nicht als unzuübertreffende Abgeschlossenheiten.

Unübertrefflich werden wahrscheinlich ihr Geist und ihre Empfindung bleiben; und das wiederum bestätigt das zu Beginn dieser Zeilen Gesagte. Nämlich, daß die Empfindung und der Geist durch den Wechsel der Zeiten an Wert nichts einbüßen, und daß derjenige, der ihre höchsten Höhen ersteigt, jederzeit über die Menge ragen wird.

Was noch überstiegen werden soll, ist ihre Ausdrucksform und ihre Freiheit. Wagner, ein germanischer Riese, der im Orchesterklang den irdischen Horizont streifte, der die Ausdrucksform


  1. Seine Passions-Rezitative haben das „Menschlich-Redende“, nicht „Richtig-Deklamierte“.
  2. Als die charakteristischen Merkmale von Beethovens Persönlichkeit möchte ich nennen: den dichterischen Schwung, die starke menschliche Empfindung (aus welcher seine revolutionäre Gesinnung entspringt) und eine Vorverkündung des modernen Nervosismus. Diese Merkmale sind gewiß jenen eines „Klassikers“ entgegengesetzt. Zudem ist Beethoven kein „Meister“ im Sinne Mozarts oder des späteren Wagners, eben weil seine Kunst die Andeutung einer größeren, noch nicht vollkommen gewordenen, ist. (Man vergleiche den nächstfolgenden Absatz.)

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Robert Schumann, Sinfonie Nr.4 d-moll op.120, (1. Fassung 1841, 2. Fassung 1851). die Überleitung im Finalsatz weicht in den beiden Fassungen voneinander ab. 1.Fassung: Moderato - Allegro vivace; 2. Fassung: Langsam - Lebhaft.
  2. Johannes Brahms, Symphonie Nr.1 op.68 c-moll (1876), 1. Satz: Un poco sostenuto - Allegro.
Empfohlene Zitierweise:
Ferruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Leipzig: Philipp Reclam jun., 1983, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Von_der_Macht_der_Toene.djvu/008&oldid=- (Version vom 1.8.2018)