Seite:Von der Macht der Toene.djvu/006

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

höchsten Höhen, die Menschen wahrnehmbar sind - welche andere Kunst hat das? -, und ihre Empfindung trifft die menschliche Brust mit jener Intensität, die vom „Begriffe“ unabhängig ist.

Sie gibt ein Temperament wieder, ohne es zu beschreiben, mit der Beweglichkeit der Seele, mit der Lebendigkeit der aufeinanderfolgenden Momente; dort, wo der Maler oder der Bildhauer nur eine Seite oder einen Augenblick, eine „Situation“ darstellen kann und der Dichter ein Temperament und dessen Regungen mühsam durch angereihte Worte mitteilt.

Darum sind Darstellung und Beschreibung nicht das Wesen der Tonkunst; somit sprechen wir die Ablehnung der Programmusik aus und gelangen zu der Frage nach den Zielen der Tonkunst.


 3

Absolute Musik! Was die Gesetzgeber darunter meinen, ist vielleicht das Entfernteste vom Absoluten in der Musik. „Absolute Musik“ ist ein Formenspiel ohne dichterisches Programm, wobei die Form die wichtigste Rolle abgibt. Aber gerade die Form steht der absoluten Musik entgegengesetzt, die doch den göttlichen Vorzug erhielt zu schweben und von den Bedingungen der Materie frei zu sein. Auf dem Bilde endet die Darstellung eines Sonnenunterganges mit dem Rahmen; die unbegrenzte Naturerscheinung erhält eine viereckige Abgrenzung; die einmal gewählte Zeichnung der Wolke steht für immer unveränderlich da. Die Musik kann sich erhellen, sich verdunkeln, sich verschieben und endlich verhauchen wie die Himmelserscheinung selbst, und der Instinkt bestimmt den schaffenden Musiker, diejenigen Töne zu verwenden, die in dem Innern des Menschen auf dieselbe Taste drücken und denselben Widerhall erwecken, wie die Vorgänge in der Natur.

Absolute Musik ist dagegen etwas ganz Nüchternes, welches an geordnet aufgestellte Notenpulte erinnert, an Verhältnis von Tonika und Dominante, und Durchführungen und Kodas.

Da höre ich den zweiten Geiger, wie er sich eine Quart tiefer abmüht, den gewandteren ersten nachzuahmen, höre einen

Empfohlene Zitierweise:
Ferruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Leipzig: Philipp Reclam jun., 1983, Seite 52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Von_der_Macht_der_Toene.djvu/006&oldid=- (Version vom 1.8.2018)