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Die vergänglichen Eigenschaften machen das „Moderne“ eines Werkes aus; die unveränderlichen bewahren es davor, „altmodisch“ zu werden. Im "Modernen" wie im „Alten“ gibt es Gutes und Schlechtes, Echtes und Unechtes. Absolut Modernes existiert nicht - nur früher oder später Entstandenes länger blühend oder schneller welkend. Immer gab es Modernes, und immer Altes.

Die Kunstformen sind um so dauernder, je näher sie sich an das Wesen der einzelnen Kunstgattung halten, je reiner sie sich in ihren natürlichen Mitteln und Zielen bewahren.

Die Plastik verzichtet auf den Ausdruck der menschlichen Pupille und auf die Farben; die Malerei degradiert, wenn sie die darstellende Fläche verläßt und sich zur Theaterdekoration oder zum Panoramabild kompliziert;

die Architektur hat ihre Grundform, die von unten nach oben zu schreiten muß, durch statische Notwendigkeit vorgeschrieben; Fenster und Dach geben notgedrungen die mittlere und abschließende Ausgestaltung; diese Bedingungen sind an ihr bleibend und unverletzbar;

die Dichtung gebietet über den abstrakten Gedanken, den sie in Worte kleidet; sie reicht an die weitesten Grenzen und hat die größere Unabhängigkeit voraus:

aber alle Künste, Mittel und Formen erzielen beständig das eine, nämlich die Abbildung der Natur und die Wiedergabe der menschlichen Empfindungen.

Architektur, Plastik, Dichtung und Malerei sind alte und reife Künste; ihre Begriffe sind gefestigt und ihre Ziele sicher geworden; sie haben durch Jahrtausende den Weg gefunden und beschreiben, wie ein Planet, regelmäßig ihren Kreis.[1]

Ihnen gegenüber ist die Tonkunst das Kind, das zwar gehen gelernt hat, aber noch geführt werden muß. Es ist eine jungfräuliche Kunst, die noch nichts erlebt und gelitten hat. Sie ist sich selbst noch nicht bewußt dessen, was sie kleidet, der Vorzüge, die sie besitzt, und der Fähigkeiten, die in ihr schlummern: wiederum ist sie ein Wunderkind, das schon viel Schönes geben kann, schon viele erfreuen konnte und dessen Gaben allgemein für völlig ausgereift gehalten werden.


  1. Dessenungeachtet können und werden an ihnen Geschmack und Eigenschaft sich immer verjüngen und erneuern.
Empfohlene Zitierweise:
Ferruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Leipzig: Philipp Reclam jun., 1983, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Von_der_Macht_der_Toene.djvu/004&oldid=- (Version vom 1.8.2018)