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vollkommen mit ihr identisch ist, als auch die der Isis waren den symbolischen Hörnern der Mondsichel entlehnt (Diod. Sic. I, 11; Plut. de Is. et Os. 52, vergl. Plut. ibid. c. 39; Macrob. Sat. I, 19; Aelian. Anim. X, 27). Ohne Zweifel hatte die pelasgische Io, die spätere Hera, einst ausser ihren Kuhhörnern auch ein Kuhgesicht. Hera hatte unter ihrem alten pelasgischen Mondnamen Io einen berühmten Tempel auf der Baustelle von Byzantion, welche Stadt von ihrer Tochter Keroëssa, d. h. der gehörnten, gegründet wurde. (O. Müller, Dorier I, S. 121; Steph. Byz. Βυξάντιον). Ist nicht der Halbmond, als Symbol des türkischen Reichs, eine Erbschaft von Byzantions Gründerin Keroëssa, der Tochter der Mondgöttin Io (Hera)? Wie dem auch sein mag, niemand kann in Betracht der vorhergehenden langen Reihe von Beweisen und Thatsachen daran zweifeln, dass Hera’s homerisches Epitheton βοώπις auf ihr einstiges Kuhgesicht hinweist, ebenso wie Athene’s homerisches Epitheton γλαυχώπις beweist, dass diese letztere Göttin einst ein Eulengesicht gehabt hat. Aber in der Geschichte dieser beiden Epitheta βοώπις und γλαυχώπις sind offenbar drei Zeitabschnitte, in denen sie einen verschiedenen Sinn hatten. In ihrem ersten Zeitabschnitt bildete man sich, wie Professor Max Müller sehr richtig bemerkt, den idealen Begriff der beiden Göttinnen und gab ihnen ihre Namen, in welchen die Epitheta nur rein ideal oder figurativ waren. Hera (Io), als Mondgöttin, muss ihr Epitheton βοώπις von den symbolischen Hörnern des Halbmondes und dessen schwarzen Flecken erhalten haben (in welchen wir als Kinder ein Gesicht mit grossen Augen zu sehen glaubten), während Athene als Göttin Aurora ohne Zweifel ihr Epitheton γλαυχώπις erhalten hat, um die Dämmerung der ersten Morgenröthe auszudrücken. Ich mache hier besonders aufmerksam auf die Terracotta-Kugel LII. N. 497, a. b. c. in John Murray’s Ausgabe meines Werks „Troy and its Remains“. Diese Kugel ist an und für sich schon ein vollkommener Beweis für die Wirklichkeit der Eulengesichter und sie giebt gleichzeitig den Schlüssel zu diesen symbolischen Darstellungen, denn wir sehen dort in der Mitte die Eule beinahe im Monogramm; sie hat aber nichtsdestoweniger das Haupthaar deutlich angegeben und zwei ausgestreckte Arme, von denen der linke sogar seine Hand hat. Rechts von der Eule ist die Sonne, links der Mond, unten ist der Morgenstern: somit ist die Darstellung vollkommen, und sie zeigt hinlänglich, dass die himmlische Eule die Aurora ist, welche zwischen der Sonne und dem Monde gen Himmel steigt. In dem 2ten Zeitabschnitt der Geschichte der beiden Epitheta wurden die Göttinnen durch Idole dargestellt, in welchen der frühere bloss ideale Begriff der Epitheta vergessen und diese in ein Eulengesicht für Athene und ein Kuhgesicht für Hera materialisirt wurden. Zu diesem 2ten Zeitabschnitt gehören alle vorhistorischen Städte und alle Idole zu Hissarlik. Ich wage die Behauptung dass es ganz unmöglich ist, eine solche Frauen-Figur mit Flügeln, Helm und Eulengesicht durch irgend ein anderes Epitheton zu beschreiben als durch γλαυχώπις. Das Wort πϙόσωπον für Gesicht, welches so oft im Homer vorkommt und wahrscheinlich Jahrtausende älter ist als der Dichter, kommt niemals in zusammengesetzten Wörtern vor, während Wörter mit dem Suffix ειδης sich auf die Aehnlichkeit im Allgemeinen beziehen. Somit, falls Athene das Epitheton γλαυχοειδης hätte, so würden wir unmöglich etwas anderes darunter verstehen als dass die Göttin die Gestalt und Form der Eule hatte.

Der 3te Zeitabschnitt in der Geschichte der beiden Epitheta βοώπις und γλαυχώπις ist der, in welchem, nachdem Hera und Athene ihrer Kuh- und Eulengesichter beraubt waren und Frauengesichter erhalten hatten, und nachdem die Kuh und die Eule die Attribute dieser Göttinnen geworden und als solche ihnen zur Seite gestellt waren, βοώπις und γλαυχώπις, als durch den Gebrauch der Jahrhunderte geheiligt, auch fernerhin die Epitheta der Göttinnen blieben,

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Heinrich Schliemann: Troia und seine Ruinen. , Waren 1875, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Troia_und_seine_Ruinen.pdf/16&oldid=- (Version vom 1.8.2018)