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Almansor wankt träumerisch einher.

Almansor.
     (Kalt und verdrossen.)
In alten Mährchen giebt es gold’ne Schlösser,
Wo Harfen klingen, schöne Jungfraun tanzen,
Und schmucke Diener blitzen, und Jasmin

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Und Myrth’ und Rosen ihren Duft verbreiten –

Und doch ein einziges Entzaub’rungswort
Macht all die Herrlichkeit im Nu zerstieben,
Und übrig bleibt nur alter Trümmerschutt,
Und krächzend Nachtgevögel und Morast.

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So hab’ auch ich mit einem einz’gen Worte

Die ganze blühende Natur entzaubert.
Da liegt sie nun, leblos und kalt und fahl,
Wie eine aufgeputzte Königsleiche,
Der man die Backenknochen roth gefärbt,

1250
Und in die Hand ein Scepter hat gelegt.

Die Lippen aber schauen gelb und welk,
Weil man vergaß sie gleichfalls roth zu schminken,
Und Mäuse springen um die Königsnase,
Und spotten frech des großen, goldnen Scepters. –

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Heinrich Heine: Tragödien nebst einem lyrischen Intermezzo. Dümmler, Berlin 1823, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Tragoedien_nebst_einem_lyrischen_Intermezzo_210.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2021)