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Reinhold Steig: Über Grimms „Deutsche Sagen“. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen

ihrer Deutschen Sagen stand vor der Tür, nachdem 1815 der zweite Band der Märchen fertig geworden war.

Im Herbst des Jahres 1815 hatte Wilhelm Grimm das Glück, in Frankfurt mit Goethe zusammenzutreffen, dem er im Laufe des Gespräches erzählte, daß sie jetzt nach Art der Märchen auch die deutschen Sagen herauszugeben gedächten. Goethe stimmte dem bei, was sein junger Verehrer über das historische Leben der Sagen zu ihm äußerte. Gewiß ein neuer Anreiz für Jacob und Wilhelm Grimm, mit der Herausgabe ihrer Sagen nunmehr aber wirklich Ernst zu machen.


II.

Wie mit ihren Märchen, wandten sich die Brüder Grimm auch mit den deutschen Sagen nach Berlin. Jene waren bei Georg Andreas Reimer erschienen, den Verlag der Sagen übernahm die Nicolaische Buchhandlung, die heute noch besteht, und deren Inhaber, die Herren Stricker, die vierte, von mir besorgte Auflage der Deutschen Sagen dem Publikum vorgelegt haben. In welcher Weise 1815 die Anknüpfung mit Nicolai erfolgte, darüber sind wir genügend unterrichtet. Wir wissen auch, daß Ferdinand Grimm, Jacob und Wilhelms jüngerer Bruder, sein Auge auf die entstehenden Bände gelegt hatte.

Dieser Ferdinand Grimm, sehr begabt, doch bei schwankender Gesundheit ohne regelrechte Schulbildung, lebte in Kassel mit den Geschwistern zusammen, ohne für seine Zukunft feste Ziele ins Auge zu fassen. Er las und schrieb nach eigener Neigung und ging wohl auch den älteren Brüdern bei ihrer Arbeit zur Hand, indem er namentlich zu ihren Sammlungen aller Art beitrug, Märchen und Sagen einbrachte, auch ihnen Abschriften von altdeutschen Manuskripten anfertigte. Es ist rührend, zu sehen, mit welch brüderlicher, ja fast väterlicher Liebe die älteren Brüder immer wieder neue Anstrengungen machten, ihn in eine seinen Gaben und Neigungen passende Lebensbahn zu bringen. Als Ludwig Emil Grimm in München seinen Kunststudien oblag, ging auch Ferdinand aufs Geratewohl dahin ab und blieb dort während der Kriegszeit. Alsdann reiste er nach Berlin, wo er durch Arnims Vermittlung eine Stellung bei Reimer fand. Er arbeitete für mancherlei Zeitschriften mit und ohne Namensunterschrift. Mit Sagen beschäftigte er sich immerfort, weshalb er auch noch während des in Göttingen stattfindenden Druckes des ersten Grimmschen Bandes beisteuerte. Die Brüder haben ihm öffentlich am Schlusse der Einleitung des ersten Bandes gedankt.

Über Art und Fortschritt der Herstellung des ersten wie des zweiten Bandes vermag ich aus lauter ungedruckten Quellen eine hinlängliche Vorstellung zu vermitteln, und zwar benutze ich die

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Reinhold Steig: Über Grimms „Deutsche Sagen“. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen. Georg Westermann, Braunschweig und Berlin 1916, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Ueber_Grimms_Deutsche_Sagen.djvu/8&oldid=- (Version vom 1.8.2018)