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Reinhold Steig: Über Grimms „Deutsche Sagen“. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen

Bekannt ist, wie er 1812 bei einem Besuche in Kassel den letzten Anstoß zu der Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen gab, deren erster Band noch 1812 in Berlin bei Reimer erschien, während der zweite erst nach dem Kriege 1815 folgen konnte. Durch die Arbeit an den Märchen vollzog sich in Grimms Anschauung die grundsätzliche Unterscheidung von Sage und Märchen, wie sie in der Vorrede zum ersten Bande 1812 dargestellt ist. Diese Unterscheidung zweier nahverwandter Formen der Volkspoesie, die von Grimms Vorgängern wie gleichzeitigen Mitarbeitern, ja auch noch späterhin, ohne Unterschied durch- und füreinander gebraucht wurden, war wieder ein neuer Anstoß, als Seitenstück zu den Märchen nun auch ein eignes deutsches Sagenbuch zu schaffen. Schärfer als bisher tritt diese Absicht während der Kriegsjahre 1814 und 1815 in den Jugendbriefen zutage. Namentlich in Wien, im Kreise gleichgesinnter jüngerer Freunde, betreibt Jacob die Sagen-Angelegenheit. Er rät dem Bruder, Wyß’ Volkssagen aus der Schweiz und Gottschalks Volkssagen anzuschaffen; er weist auf die Riesensage im Taschenbuch der Liebe und Freundschaft 1815 hin (Sagen Nr. 136). Von Wien aus erfolgte aber auch nochmals eine öffentliche programmatische Aufforderung Jacobs zur Sammlung alter Volksdichtungen, insbesondere auch der Sagen.

Wenn auch in losester und später rasch aufgelöster Form, hatte sich in Wien eine Gesellschaft gestiftet, welche durch ganz Deutschland ausgebreitet werden sollte und zum Ziele nahm, alles, was unter dem gemeinen deutschen Landvolke von Lied und Sage vorhanden sei, zu retten und zu sammeln. Unter den sechs der Sorgfalt gleichgerichteter Freunde empfohlenen Gegenständen – es sind: Volkslieder, Sagen, Schalksknechtsstreiche, Volksfeste, Aberglaube, Sprichwörter – kommt für die Zwecke vorliegender Untersuchung der zweite in Betracht, der ausführlicher als die anderen lautet: „Sagen in ungebundener Rede, ganz besonders sowohl die vielen Ammen- und Kindermärchen von Riesen, Zwergen, Ungeheuern, verwünschten und erlösten Königskindern, Teufeln, Schätzen und Wünscheldingen, als auch Lokalsagen, die zur Erklärung gewisser Örtlichkeiten (wie Berge, Flüsse, Seen, Sümpfe, zertrümmerte Schlösser, Türme, Steine und alle Denkmäler der Vorzeit sind) erzählt und gewußt werden.“ Die Wiener Zirkulare wurden mit Jacobs eigenhändiger Unterschrift an alle möglichen Leute innerhalb und außerhalb Deutschlands verschickt, ohne freilich durch reichlichen Erfolg die aufgewandte Mühe zu belohnen. Grimms erfuhren doch schließlich: eigene Arbeit hilft weiter als Unterstützung von fremder Seite. Die Brüder mußten auch bald zu einem vorläufigen Abschluß kommen, denn Herrichtung und Druck des ersten Bandes

Empfohlene Zitierweise:
Reinhold Steig: Über Grimms „Deutsche Sagen“. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen. Georg Westermann, Braunschweig und Berlin 1916, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Ueber_Grimms_Deutsche_Sagen.djvu/7&oldid=- (Version vom 1.8.2018)