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Reinhold Steig: Über Grimms „Deutsche Sagen“. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen

hat, fragt er die Frau, „woher sie mit den Kindlein komme, wem sie zuständig und was sie damit thun wolle“? Dem einfachen Verständnis muß „sie“ dreimal auf die Frau zu deuten scheinen. Doch zeigt die Urstelle eine bessere Beziehung, nämlich: „Wo sie mit den Kindlin herkomme? Weme die zustendig? Vnd was sie mit denselben thun wolle?“ Also das mittlere Subjekt „die“ geht, wie notwendig, auf die Kinder. Das habe ich auch bei Grimms hergestellt.

Nr. 579 (Die Gräfin von Orlamünde). Diese Sage von der Gräfin Agnes von Meran, die, um Albrecht den Schönen zu heiraten, ihre beiden Kinder selbst tötet oder töten läßt, folgt in der Hauptsache einem alten Reimgedicht, das in Waldenfels’ Selectae Antiquitatis libri XII (Nürnberg 1677, S. 470) in den hier in Betracht kommenden Strophen lautet:

Ich wolt, sprach Albert, dem schönen Weib
gerne zuwenden meinen Leib
zur Eh’ Sie nehmen in Zucht und Ehr,
wann es nur ohn vier Augen wär.

Die Rede für die Fraue kam,
so sie bald in die Ohren nahm,
und sie im Hertzen stets betracht,
all Augenblick daran gedacht.
Dadurch doch ihr verliebtes Hertz
nur kam in grösser Leid und Schmertz.

Gleichwie das Feuer sehrer wütt’
und tobet, wann man Oel drein schütt.
Also auch ihre Liebes-Flamm
hefftiger brannte und zunahm
durch deß Burggrafens gehörte Red’
dacht Sie die Kindlein so sie hätt’:
werden gewiß die vier Augen seyn,
die mich berauben deß Buhlens mein.

Und war das Weib so sehr bethört,
daß Sie ihr eigne Kind’ ermördt,
und jämerlich ihrs Lebens beraubt,
stach sie mit Nadeln durch ihr Haupt;
wol durch die zarte Hirnschal,
die zart und weich war noch zumal.

Es geht nun neun Strophen so weiter, namentlich mit Parallelisierung der Medeasage, und dann folgt im lateinischen Chronikenstil weiter, wie ein satelles Nobilis, Hayder vel Hager cognominatus sich bereitfinden läßt, die Kinder, die ihn schmeichelnd liebkosen, umzubringen. Der kleine Knabe, Herulus, bittet:

Lieber {Hager / Hayder} laß mich leben,
Ich will dir Orlamünden geben,
Auch Plassenburg deß neuen,
Es soll dich nicht gereuen,

Empfohlene Zitierweise:
Reinhold Steig: Über Grimms „Deutsche Sagen“. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen. Georg Westermann, Braunschweig und Berlin 1916, Seite 258. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Ueber_Grimms_Deutsche_Sagen.djvu/56&oldid=- (Version vom 1.8.2018)