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Reinhold Steig: Über Grimms „Deutsche Sagen“. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen

Nr. 353 (Das von den Juden getötete Mägdlein). Die Sage hat zur Grundlage „Pforzheim’s Kleine Chronik. Von Siegmund Friedrich Gehres“ (Memmingen 1792). Gehres schreibt als leidenschaftlicher Protestant und Anhänger der Französischen Revolution, daher ist er gegen die katholischen Priester und für das „unglückliche Völkchen“ der Juden. Als er in Abschnitt 3 über „Wunder in Pforzheim. 1. Jul. 1267“ berichtet, erklärt er zu seiner Verwahrung ausdrücklich: „so will ich meine Legende geben, wie sie gedruckt steht, und wie noch jetzt Trümmer davon zu sehen sind. Also im Tone der Tausend und einen Nacht“. Er erzählt die Geschichte nun mit Ausfällen auf die Christen und Sympathiebezeugungen für die Juden, wie sie von Thomas Cantipratan in seinem Buche von Wundern auf das Zeugnis zweier Dominikaner erzählt wird. Daß also im Jahr 1267 in Pforzheim eine alte Frau ein siebenjähriges Kind den Juden verkauft habe, die ihm die Adern aufschnitten, um das Blut aufzufangen, und den Körper in die Ens warfen; woraus das Margretchen ihr Händlein reckte, so daß es von den Fischern herausgezogen wurde, worauf es verschied; die Juden und das Weib wurden hingerichtet. Grimms haben nun all die Zutaten Gehres’ fortgelassen und rein objektiv im Sinne des deutschen Volkes wiedererzählt mit demjenigen Grade von Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit, der nach ihrer Auffassung den deutschen Sagen überhaupt innewohnt.

Nr. 361 (Gottes Speise). Ziemlich wörtlich aus der Stangwaldschen ersten Ausgabe 1571. Es handelt sich ja freilich nicht um Luthers Stil, sondern um Stilisierung durch andere, in diesem Falle vielleicht durch Stangwald selbst. Grimms Änderungen des Textes sind nur formal, aber doch höchst bemerkenswert. Stangwald: „Als aber der Knab sich etwas gesäumet, hat ihn die Nacht uberfallen, ist auch dieselbe Nacht ein großer tiefer Schnee gefallen, der allenthalben die Berge bedecket hat, daß der Knab vor dem Schnee nicht hat können aus dem Walde kommen.“ Grimms: „Als aber der Knabe sich etwas gesäumt, hat ihn die Nacht überfallen, ist auch dieselbe Nacht ein großer tiefer Schnee herabgekommen, der allenthalben die Berge bedeckt hat, daß der Knabe vor dem Schnee nicht hat können aus dem Wald gelangen.“ Man wird bemerken, daß in den Verben eine Verschiedenheit liegt, aber der Grund zu dieser Abweichung Grimms verbirgt sich nicht. Sie wollten das zweite Mal „fallen“ fortschaffen und setzten „herabkommen“ ein; dies „kommen“ zog aber die Abänderung des bei Stangwald nun wirklich folgenden Wortes „kommen“ in „gelangen“ nach sich. Aus dem gleichen ästhetisch-stilistischen Grunde ist ursprüngliches „kommen“ durch „dringen“, ursprüngliches „abgangen“ durch „abgeflossen“, ursprüngliches „nachdem

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Reinhold Steig: Über Grimms „Deutsche Sagen“. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen. Georg Westermann, Braunschweig und Berlin 1916, Seite 244. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Ueber_Grimms_Deutsche_Sagen.djvu/42&oldid=- (Version vom 1.8.2018)