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Reinhold Steig: Über Grimms „Deutsche Sagen“. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen

seinem Texte und seiner Diktion abhängig sind. Trotzdem ist der Unterschied ein ganz gewaltiger. Matthisson schreibt eine modern zugestutzte Empfehlung von Amichs topographischer Karte Tirols, die 1774 schon erschien und von Matthisson als chalkographische Seltenheit ersten Ranges hingestellt wird. Er bemerkt in der Gebirgskette ein gekrümmtes Felsenhorn mit der seltsamen Bezeichnung „Frau Hütt“, und später, als er Tirol selbst betritt, erfährt er vom Grafen Wenceslaus von Wolkenstein die Sage dazu, die er nun mit etwas modernem Raffinement nacherzählt. All dies, zwei Spalten, haben die Brüder Grimm fortgelassen. Dann aber setzen sie Matthissons Schreibart in ihren Sagenstil um, in folgender Weise:

Matthisson: Grimms:
Eines Tages stürzte der kleine Erbprinz, vom gewohnten Morgenspaziergange heimkehrend, mit Schluchzen und Wehklagen in die mütterlichen Arme der vor Entsetzen bebenden Königinn. Schwarzer Schlamm überzog des Knaben Gesicht und Hände, und sein Leibrock glich an Farbe dem rußigen Kittel eines Köhlers. Der junge Enaksenkel hatte sich nämlich angeschickt, eine Tanne zum Steckenpferde abzuknicken. Der Baum stand am Rande eines Morastes. Das verrätherische Erdreich wich unter den Füßen des achtlosen Wildfangs, und im Nu schlug der Moder über seinem Haupte zusammen. Ein günstiger Stern half ihm indeß glücklich wieder auf den festen Boden. Auf eine Zeit kam ihr kleiner Sohn heim, weinte und jammerte, Schlamm bedeckte ihm Gesicht und Hände, dazu sah sein Kleid schwarz aus, wie ein Köhlerkittel. Er hatte sich eine Tanne zum Steckenpferd abknicken wollen, weil der Baum aber am Rande eines Morastes stand, so war das Erdreich unter ihm gewichen und er bis zum Haupt in den Moder gesunken, doch hatte er sich noch glücklich herausgeholfen.

In dieser Weise arbeiteten die Brüder Grimm Matthissons Text weiter um, wo es möglich war, auch enger sich anschließend, bis zum Schlusse, dessen volkstümliche Fassung: „Spart eure Brosamen für die Armen, damit es euch nicht ergehe, wie der Frau Hütt!“ wörtlich beibehalten ist.

Nr. 234 (Der Kindelsberg) lehnt sich gleichfalls an die Erzählung an, die Jung-Stilling in seinen „Jünglings- Jahren“ (oder in der „Neuen Original-Ausgabe“, Basel und Leipzig 1806, S. 29 bis 33) gibt; das Grimmsche Zitat lautet ungenau „Stilling’s Leben II. 24–29“. Ziemlich getreu, bisweilen wörtlich, wird von Grimms nacherzählt, wie ein schönes Ritterfräulein ihrem Bräutigam die Treue hielt, in dessen Abwesenheit der Ritter mit dem schwarzen Pferde um sie warb. Der Schluß der Sage aber, wie er nun bei Grimms folgt, beruht nicht mehr auf dem Texte bei Jung-Stilling, sondern auf einem Volksliede, das lautet:

Empfohlene Zitierweise:
Reinhold Steig: Über Grimms „Deutsche Sagen“. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen. Georg Westermann, Braunschweig und Berlin 1916, Seite 237. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Ueber_Grimms_Deutsche_Sagen.djvu/35&oldid=- (Version vom 1.8.2018)