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Reinhold Steig: Über Grimms „Deutsche Sagen“. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen

III.

Was den Text der Sagen betrifft, so war ich unter fortgesetzter Heranziehung des Handexemplars bemüht, die reine Fassung der Grimmschen Sagen wiederzugewinnen. Diesem Bestreben stemmten sich mehrfache Schwierigkeiten entgegen. Die handschriftlichen Vorlagen wurden in den Druckereien aufgebraucht und haben sich nicht erhalten; der Druck fand auch nicht in Kassel, sondern für den ersten Band in Göttingen, für den zweiten in Erfurt statt. Die durch die Entfernung des Druckortes entstandenen Schäden ließen sich aber teils durch scharfe Prüfung der Texte unmittelbar erkennen, teils ergaben sie sich aus der Vergleichung mit den Urstellen, soweit diese gedruckt zur Verfügung stehen; denn für alle als „mündlich“ bezeichneten Sagen fällt die Möglichkeit der Textvergleichung fort. Wie nun aus der Vergleichung mit den Originalstellen sich manche notwendige Berichtigung des Sagenvortrages ergab, so wurde auch wiederum manche Bestätigung dessen erzielt, was, dem ersten Blicke auffällig, zu einer Änderung geneigt machen möchte, oder auch tatsächlich schon geändert worden war. Darüber hinaus gewährte diese Vergleichung der Sagen mit ihren Urstellen den eigentlichen Einblick in die historisch und dichterisch schaffende Tätigkeit der Brüder Grimm, wie es sonst nicht möglich gewesen wäre. Die Brüder haben höchst selten ihre Sagen den Urstellen wortwörtlich entnommen, sondern den Vortrag nach bestimmten Gesichtspunkten umgeformt und geordnet, die freilich die zehnjährige Entstehungszeit der Sagen hindurch nicht die gleichen blieben, und die auch für Jacob und für Wilhelm individuell verschieden waren. Es gewährt ein ästhetisches Vergnügen seltener Art, genau zu beobachten und mitzufühlen, durch welche stilistischen und kompositionellen Mittel sie den ihnen eigentümlichen Sagenvortrag geschaffen haben; freilich kommt es vor, daß auch einmal eine Änderung mißraten ist, hat doch auch z. B. Goethe nach unserem Geschmack einzelne Verse seiner „Suleika“ verschlechtert. In solchen Fällen müssen wir uns hüten, die Sagenerzähler Grimms zu verbessern, da wir doch nur den Text der Sagen auf die ihnen gemäße Reinheit zurückbringen dürfen. Etwas anderes ist es hingegen, wenn offenbarer, äußerlicher Irrtum störend wirkt und zum leichten, von Grimms selbst gewollten Verständnis der Ausmerzung harrt. Grimms Sagenbearbeitung durchläuft alle denkbaren Stufen des Nach- und Neuschaffens,

Empfohlene Zitierweise:
Reinhold Steig: Über Grimms „Deutsche Sagen“. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen. Georg Westermann, Braunschweig und Berlin 1916, Seite 225. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Ueber_Grimms_Deutsche_Sagen.djvu/23&oldid=- (Version vom 14.12.2022)