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Reinhold Steig: Über Grimms „Deutsche Sagen“. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen

Über Grimms „Deutsche Sagen“.

Vor einiger Zeit fiel mir die Aufgabe zu, die vierte Auflage der „Deutschen Sagen“ der Brüder Grimm zu besorgen. Ich wies in meinem Vorworte darauf hin, daß ich bei der Zurüstung der Auflage durchweg das Handexemplar Jacob und Wilhelm Grimms zu Rate gezogen, ihre schriftlichen Besserungen und Zusätze genutzt und mich bemüht habe, den reinen Text der Sagen nach Möglichkeit wiederzugewinnen. Dies Bestreben führte mich, was den letzten Punkt anbelangt, gar bald zu der Erkenntnis, daß schon der Originaltext der Brüder, wie er in den beiden 1816 und 1818 nicht in Kassel gedruckten Bänden vorliegt, mehrfachen Schaden gelitten hat. Die handschriftlichen Druckvorlagen aber, die damals in den Druckereien verbraucht wurden, sind verlorengegangen, so daß auf diesem Wege mir keine Hilfe zukam. Es blieb das einzige Mittel, soweit möglich und nötig, zu den Quellen aufzusteigen, aus denen Stoff oder Text der Sagen einst geschöpft wurde. So mühevoll auch dieses Verfahren war, es enthüllte sich dadurch erst recht die fortblühende Unvergänglichkeit der Sage. Wie sich daraus so manche notwendige Berichtigung des Sagenvortrages ergab, wurde auch wiederum gar manche Bestätigung dessen erzielt, was, dem ersten Blicke auffällig, zu einer Änderung geneigt machen möchte, oder tatsächlich schon geändert worden war. Auch gewährte die Vergleichung der Sagen mit ihren Urstellen den eigentlichen Einblick in die historisch und dichterisch schaffende Tätigkeit der Brüder Grimm, wie es sonst nicht möglich gewesen wäre. Die sicheren Ergebnisse hielt ich damals der neuen, vierten Auflage nicht vor, versprach aber, Rechenschaft über die geschichtlich-literarische Seite meines Verfahrens in einem besonderen Aufsatze zu geben.

Dies tue ich jetzt, und zwar in dem Umfange, als er durch meine Arbeit an den Sagen bedingt ist.


I.

Das literarische Wirken der Brüder Grimm vollzieht sich in zwei großen, voneinander verschiedenen Epochen. Während sie bis in das zweite Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts hinein in die poetisch-produktive Art der romantischen Dichter einstimmten und in diesem Sinne brüderlich-gemeinsam ihre Arbeiten anlegten und zu Ende führten, wandten sie sich mit dem Beginn der zwanziger Jahre zu vorwiegend wissenschaftlicher Behandlung

Empfohlene Zitierweise:
Reinhold Steig: Über Grimms „Deutsche Sagen“. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen. Georg Westermann, Braunschweig und Berlin 1916, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Ueber_Grimms_Deutsche_Sagen.djvu/1&oldid=- (Version vom 1.8.2018)