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Der Eremit.
Von G. Dow.

Die große Straße von Mons nach Paris, welche jetzt ihre Bedeutsamkeit an die gewaltige Eisenbahnlinie abgetreten hat, war ums Jahr 1656 freilich noch nicht in dem glänzenden Zustande, der sie zu unserer Zeit auszeichnete; aber sie existirte doch.

Auf diesem Heerwege sah man an einem Frühlingsabende, kurz vor einbrechender Dunkelheit, zwei Reisende, einen Mann und ein junges Mädchen. Beide waren beritten. Nach allen Anzeichen hatten sie eine bedeutende Strecke zurückgelegt.

Die Reisenden gehörten den vornehmen Ständen an. Der Cavalier war ein Mann von vierundzwanzig Jahren mit langen, schwarzen Locken und dunklen Augen. Obgleich er sehr ermüdet schien, so war doch die Haltung seines hohen, schlanken Körpers, sein Sitz im Sattel untadelhaft und graziös. Die Dame, kaum zwanzig Jahr alt, in Amazonentracht mit einem breitkrämpigen Federhute, war blond, zart, zierlich geformt. Sie hielt sich nur mit Mühe aufrecht und richtete unverwandt den Blick auf das zwar entschlossene, aber doch bekümmerte edle Antlitz ihres schönen Begleiters, als schöpfe sie neuen Muth aus diesem Anschauen.

Die feine Kleidung der Reisenden war zerknittert und in Unordnung: Beide mußten vor ihrem Abritte auf’s äußerste geputzt gewesen sein. Das Seiden-Wamms des Cavaliers war reich mit Silber gestickt; sein Ueberwurf mit Schlitzärmeln vom blendendsten blauen Sammt war mit Perlen verziert und sein Hut mit Straußfedern, seine gelben Stiefeln mit goldenen Sporen und sein langes, gerades, schmales Schwert wären auf einem Feste an einem fürstlichen Hoflager nicht zu schlecht gewesen.

Die Dame war nicht weniger kostbar gekleidet. Ihr Castorhut hatte eine Agraffe von Diamanten, welche unter dem Reigerbusche hervor taghell durch die einbrechende Dämmerung leuchtete. Sie trug ein dunkelgrünes Jagdkleid mit silbernem Ausputz und an einem mit hellen Steinen verzierten Bandelier ein silbernes Hifthorn.

Die Thiere des Paars, der falbe Hengst des Herrn und der kleine Fliegenschimmel der Dame, konnten, wie sehr die Reiter sie pressirten, sich kaum noch in einem ermüdeten, mürrischen Trabe erhalten.

Wer diese beiden schönen Menschen in ihrem beschriebenen Aufzuge an diesem Abende auf der großen Straße sah, fern von jeder menschlichen Wohnung, erschöpft, und dennoch wie vor einer furchtbaren Gefahr immer weiter und vorwärts strebend, der hätte die damalige Zeit gar schlecht gekannt, wenn er nicht auf der Stelle zu der Ueberzeugung gekommen wäre: dies ist ein Liebespaar und hier hat eine Entführung in bester Form stattgefunden.

Die Reiter sahen mit schwerem Herzen, daß die Straße, schnurgerade, sich noch unabsehbar ausdehnte, sobald sie eine der sanften, wellenförmigen Erhöhungen derselben erreicht hatten. Auf einem solchen Hügel, welcher eine Uebersicht nach allen Seiten gewährte, machte der Cavalier Halt, hob sich in den Bügeln und schaute rundum.

Empfohlene Zitierweise:
Text von Adolph Görling: Stahlstich-Sammlung der vorzüglichsten Gemälde der Dresdener Gallerie. Verlag der Englischen Kunst-Anstalt von A. H. Payne, Leipzig und Dresden 1848−1851, Seite 845. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Stahlstich-Sammlung_der_vorz%C3%BCglichsten_Gem%C3%A4lde_der_Dresdener_Gallerie.pdf/862&oldid=- (Version vom 1.8.2018)