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Gegenstand lebhaftester Bewunderung gewesen, und wirklich liegt etwas reizend Geheimnißvolles, ein süßer Ernst und die verschämte Jungfräulichkeit in diesem himmlischen Gesicht. Das Jesuskind ist wider Annibale’s Gewohnheit etwas derb gehalten, übrigens herrlich gezeichnet und gemalt. Der Meister wählte gern heilige Geschichten zu seinem Vorwurfe; ist indeß in den mythologischen, antiken Stoffen in der Regel am glücklichsten gewesen. Das inbrünstige, andächtige Element der christlichen Religion war ihm nicht lieb; er malte lieber in dem griechischen Geschmack einer heitern, formenschönen Ruhe. Eins von Annibale’s größern Bildern, eine Kreuzabnahme, müssen wir ebenfalls als in der Gallerie zu Dresden befindlich bezeichnen. Der Künstler hat selbst viel radirt und gestochen; einige zwanzig Blätter mögen von ihm vorhanden sein, welche im hohen Grade geschätzt werden.

Agostino erhielt seinen ersten Unterricht von Fontana und Passerotti, nachdem ihm die Beredtsamkeit Ludovico’s der Werkstatt eines Goldschmieds entführt hatte. Der Kunstjünger war sanftmüthig und liebte leidenschaftlich Poesie, Musik und philosophische Studien, wodurch sich ihm sehr bald die elegante Gesellschaft Bologna’s eröffnete. Diese Anerkennung seiner persönlichen Vorzüge und der Ruf, den Agostino als gewandter Schriftsteller über mathematische und philosophische Gegenstände, sowie als Gelegenheitsdichter errang, scheinen den Annibale zuerst gegen den Bruder aufgereizt zu haben. Annibale war, wie gesagt, heftig, leidenschaftlich und befand sich nur unter Menschen wohl, vor denen er seinen Cynismus, seine rohen Sarkasmen nicht zu verbergen brauchte. Annibale bewies dem Bruder, daß er von vornherein schon zu den Feinden, das heißt zu den Manieristen gehöre, daß er bei seiner weibischen Feinheit und Zierlichkeit nie ein Maler, kraftvoll wie Angelo, oder begeistert und glühend wie Raphael zu werden hoffen dürfe.

– Du wirst uns ruiniren! rief Annibale dem Agostino wüthend zu. Du wirst den Vetter und mich zum Gespött machen, wenn wir auf deine Pinseleien hingewiesen werden, um die Wirkungen unserer neuen Methode der Malerei zu studiren. Stich nach, was wir malen, schreib’ Verse und Abhandlungen über unsere Bilder, aber rühre keinen Pinsel wieder an, wenn wir Brüder bleiben wollen.

Agostino gab nach und stach in Kupfer und radirte, während Annibale nach Parma ging. Kaum war der Tirann jedoch zurück, so begann der Streit abermals über Agostino’s Bild des heiligen Hieronymus, welches die Carthäusermönche als das beste der ihnen für ihre Capelle übersandten Bilder erklärt und gekauft hatten. Annibale ward wüthend vor Eifersucht und die Brüder trennten sich in bitterer Feindschaft. In Rom jedoch bedurfte Annibale des Agostino in der Farnesina und der Friedfertige ging, erfand und entwarf sogar mehre der schönsten Partien dieses Meisterstücks. Seine „Galathea“ in dem Palaste Farnese erwähnten wir schon; diese Schöpfung, welche nach dem Urtheil der damaligen Kenner den Agostino als den ersten der Caracci hinstellte, vergab ihm Annibale nie; er quälte den Bruder, trieb ihn ein, beleidigte ihn fortwährend und verscheuchte ihn endlich von Rom. Agostino starb in Parma aus Gram über die Intriguen seiner Feinde.

Agostino ist sicherlich der gebildetste der Caracci, welcher sich seiner Kunstprincipien am klarsten bewußt war. Seine Lehrschriften über Malerei und ihre Hülfswissenschaften sind noch heute brauchbar, und seine Gedichte über die Schönheit, über Naturscenen etc. sind geistreich und zierlich.

Empfohlene Zitierweise:
Text von Adolph Görling: Stahlstich-Sammlung der vorzüglichsten Gemälde der Dresdener Gallerie. Verlag der Englischen Kunst-Anstalt von A. H. Payne, Leipzig und Dresden 1848−1851, Seite 702. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Stahlstich-Sammlung_der_vorz%C3%BCglichsten_Gem%C3%A4lde_der_Dresdener_Gallerie.pdf/719&oldid=- (Version vom 1.8.2018)