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Michel Angelo ergriff den jungen Künstler auf’s Gewaltigste und Raphael schien ihn wie mit Zauberbanden zu fesseln. Der Geist der Kunst, die schöne, gehaltvolle Idee in schöner und erhabener Form kam bei Annibale zum Durchbruch, und jetzt erst beginnt die so sehr bewunderte, vollendetste Reinheit der Zeichnung Annibale’s sich zu entfalten, welche sich dreist neben diejenige Angelo’s und Raphaels stellen darf. Seine Richtung ward eine vollkommen akademische, ließ aber schon jetzt die Mannigfaltigkeit der Conception, den Ausdruck eines reichen, bewegten Lebens und eine harmonische, breite Färbung vermissen. Um die vollendete Schönheit zu erreichen, suchte er die von den verschiedenen Meistern erreichten einzelnen Vollkommenheiten zusammen, um ein tadelloses Ganze zu erbauen; diese Formenschönheit war jedoch nichts weniger, als gedankengeboren, und blieb kalt und leblos trotz aller Richtigkeit der Zeichnung und aller Harmonie des Colorits. Es liegt etwas Sculpturartiges in fast jedem Bilde Annibale Caracci’s; Kraft, in vielen Fällen eine gewisse classische, unbewegliche Hoheit und Größe, ist dem Meister selten abzusprechen; doch ist fast kein einziges Bild die Frucht einer gedanken- und empfindungsvollen, ursprünglichen Schöpferkraft, welche sich gewaltig dazu drängt, in künstlerischer Form zur Erscheinung zu kommen. Hier stehen wir bei der Composition Annibale’s; sie ist selten mehr, als eine künstlerische Combination; die Handlung ist herausstudirt, so daß die Figuren oft wie willkürlich zusammengestellt erscheinen und die innere Nothwendigkeit des Gemäldes, was Composition belangt, selten schlagend und ergreifend hervortritt. Hinreißen wird Annibale Caracci mit seinen Schöpfungen schwerlich; er besitzt nicht das göttliche Geheimniß, die Herzen seiner Beschauer zu rühren und den Strom der poetischen Empfindung in ihnen fließen zu machen; die berechnende Kritik aber wird durch die, einen festen Haltpunkt für die bloße Betrachtung darbietende Tadellosigkeit der Formen, namentlich der männlichen Figuren, in Annibale’s Bildern widerstandlos gefesselt. Mengs, so auffallend genau den Caracci geistesverwandt, Winkelmann, Poussin u. A. m. haben oft Annibale Caracci den Platz unmittelbar nach Raphael eingeräumt.

Die ganze Art der Malerei Annibale’s wies ihn von selbst zur Frescoarbeit hin, und hier erscheint das Gemessene und Gehaltene in der Bewegung seiner Figuren fast als Verdienst. Es liegt eine classische, klare Ruhe über dem Meisterwerke Annibale’s im Palaste Farnese zu Rom; bei aller Grazie, bei den wechselnden Stellungen und der mannigfaltigen Gruppirung an dem Deckengemälde und den beiden großen Bogenfeldern hat die ganze Arbeit etwas Monumentales. Fünfhundert Thaler wagte der schamlose Cardinal Farnese dem Künstler, welcher sieben Jahre an diesem Werke arbeitete, als Bezahlung zu bieten . . . . Annibale verfluchte seinen Stand und starb aus gekränktem Ehrgeiz.

Annibale war ein außerordentlich fleißiger und gewissenhaft arbeitender Meister. Seine technische Fertigkeit war bedeutender, als die seiner Namensgenossen; dennoch malte er nie schnell. Im Ganzen hat der Künstler, welcher in der besten Manneskraft starb, viele Gemälde hinterlassen. Oelbilder von ihm sind in fast allen bedeutenden Gallerien, und viele Kirchen besitzen Werke von seiner Hand. Die Gallerie in Dresden bewahrt außer der Madonna mit dem Kinde noch einen heiligen Rochus und mehre weniger hervorragende Stücke.

Diese Madonna gilt als eine der anmuthigsten Frauengestalten, welche Annibale je malte. Zugleich besitzt das Gemälde einen herrlichen, lebendigen Farbenton, welches durchaus nicht von allen Werken Annibale’s gesagt werden kann. Das Antlitz der heiligen Jungfrau ist immer der

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Text von Adolph Görling: Stahlstich-Sammlung der vorzüglichsten Gemälde der Dresdener Gallerie. Verlag der Englischen Kunst-Anstalt von A. H. Payne, Leipzig und Dresden 1848−1851, Seite 697. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Stahlstich-Sammlung_der_vorz%C3%BCglichsten_Gem%C3%A4lde_der_Dresdener_Gallerie.pdf/714&oldid=- (Version vom 1.8.2018)