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Die heilige Familie.
Von Hannibal Caracci.

Der Name Caracci oder Carracci ist einer der glanzvollsten in der Geschichte der italienischen Malerei. Es sind sechs Künstler, welche, zu derselben Familie gehörend, diesen Namen führten. Doch bezeichnet man, wenn die Caracci genannt werden, mit Hinweglassung der drei unberühmten und mittelmäßigen Maler, nur drei Mitglieder der Familie: den Ludovico, Annibale (Hannibal) und Agostino (Augustin). Das Wirken dieser drei Caracci steht in so genauem Zusammenhange, daß man von dem einen Caracci kaum reden kann, ohne die andern nicht gleichfalls erwähnen zu müssen. Die Caracci haben gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts mit vereinter Kraft eine Reform italienischer Kunst zu Stande gebracht, welche von größter Bedeutung für die Richtung der Italiener in der Malerei, als auch anderer Völker werden sollte, die durch das Studium der italienischen Kunstwerke ihre Bildung zu veredeln strebten. Die Caracci betraten in einer Periode den Schauplatz, in welcher die Kunst in Italien mit einer auffallenden Schnelligkeit von der erhabenen Höhe herabsank, auf welcher die Raphael und Michel Angelo, Leonardo da Vinci, Correggio und Tizian glänzen. In kaum fünfzig Jahren schien Alles verloren, was die edelsten Geister im Verlaufe von fast dreihundert Jahren errungen hatten. Die unsterblichen Werke der großen Meister schienen ganz machtlos geworden zu sein, denn auf der einen Seite spreizte sich die gehaltloseste, weichlichste Manierirtheit, während auf der andern ein roher Naturalismus erstand, vor welchem jeder geistige Aufschwung unterzugehen drohte. Es war den Caracci beschieden, sich dem immer weiter greifenden Verfall der Kunst mit starker, ernster Manneskraft entgegenzustemmen. Ein geläuterter Geschmack in Zeichnung und Composition ward durch sie wiederum hergestellt, und weniger ward dieses durch ihre originalen Schöpfungen, als durch die Strenge und Verständigkeit herbeigeführt, womit sie das Studium der großen Meister als die Grundlage ihrer Thätigkeit feststellten.

Alle drei Caracci sind nicht mit jener ursprünglichen Schöpferkraft ausgerüstet, welche den vollendeten Werken der vergangenen Zeit gegenüber fast unwillkürlich durchbricht und neue Bahnen zeigt. Diese Maler sind kritische Genie’s, welche mit feinem Verstande die eigenthümlichen Vorzüge ihrer Vorbilder zu ergründen suchten, welche diese Vorzüge beinahe systematisch zusammenzustellen verstanden, und Nachahmungstalent genug besaßen, um wirkungsreich das als vorzüglich Erkannte in ihren Gemälden wiederzugeben. Von Begeisterung darf man bei den Caracci wenig reden; hier liegt ihre Kraft nicht; sie waren stark durch die vom berechnenden Verstande und von einem richtigen Geschmacke dictirte Methode. Es ist dies die eklektische Methode, welche in der Malerei zuerst durch die Caracci geübt wurde, bis sie als eigentliche Lehrmethode sich auf allen spätern Kunstschulen und Akademien Bahn gebrochen hat.

Es liegt in der Natur der Sache, daß eine Kritik, wie die Caracci sie übten, sich vorzugsweise der Form, welche die großen Meister zur Erscheinung brachten, zuwenden mußte. Die Zeichnung, das Knochengerüst eines Gemäldes, ward von den Caracci mit einer bis dahin unbekannten

Empfohlene Zitierweise:
Text von Adolph Görling: Stahlstich-Sammlung der vorzüglichsten Gemälde der Dresdener Gallerie. Verlag der Englischen Kunst-Anstalt von A. H. Payne, Leipzig und Dresden 1848−1851, Seite 690. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Stahlstich-Sammlung_der_vorz%C3%BCglichsten_Gem%C3%A4lde_der_Dresdener_Gallerie.pdf/707&oldid=- (Version vom 1.8.2018)