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Die Terrasse.
Von Antoine Watteau.

Die beiden Levers, welche regelmäßig den Beginn des Tages im Versailler Schlosse bezeichneten, waren soeben eröffnet. Die Elite der Höflinge glitt lautlos nach den Gemächern Ludwigs XIV. Voran schritten neun oder zehn Personen, meistens in reiferem Alter, mit ungeheuren Perrücken versehen. Ihr Anzug dagegen war absichtlich vernachlässigt und machte Ansprüche auf die Bezeichnung Negligé-Toilette. Diese „Unangekleideten“, welche nur durch ihre Wolken-Perrücken zu verstehen gaben, daß sie bei dem Könige ihre Aufwartung machten, hatten das beneidenswerthe Privilegium, bei dem Aufstehen Ludwigs gegenwärtig zu sein, mit dem Allmächtigen über das Wetter, über die Jagd, das Theater, über die Neuigkeiten der Chronique scandaleuse zu sprechen, oder genauer, da eine regelmäßige Unterhaltung durchaus nicht gestattet war, kleine, geistreiche oder fade, witzige, gutmüthige oder boshafte Bemerkungen zu wechseln. Daneben war es ihnen vergönnt, Zeuge davon zu sein, wie die bereits sehr gebrechliche, neunundsechzigjährige Majestät von Frankreich sich allerhöchst eigenhändig mit schweren, langen Seidenstrümpfen versah und sich rasiren ließ. Frisirt war der alte König vielleicht schon lange bevor irgend einer seiner Hofleute erwachte. Die Geheimnisse dieses Levers avant la lettre kamen keinem Sterblichen als dem Signor Pompeo Francese, dem ersten Kammerfriseur, nicht einmal der Frau von Maintenon zu Gesichte, denn Ludwig hatte eine sehr stark ausgeprägte Abneigung, in kahlem Schädel zu erscheinen, obschon er in Anderweitem nichts weniger als eitel, oder gegen seine zunehmende Altersschwäche blind war.

Nach den Auserwählten folgten die Personen des großen Levers, die glücklichen Zeugen davon, wie Ludwig XIV. frühstückte. Während sie eintraten, wurde die kleine Unterhaltung des kleinen Levers erweitert; es durfte ordentlich menschlich gesprochen werden. Der König hörte in der Regel zu, ohne zu antworten. Doch hatten nur die zum kleinen Lever Berechtigten die Erlaubniß zu sprechen und irgend etwas vorzutragen, ohne von dem Könige angeredet zu sein. Zum großen Lever kamen oft Fremde von Distinction, und war Ludwig nicht, wie er es gewöhnlich zu sein pflegte, zu apathisch, um sich zusammenhängend zu unterhalten, brach noch ein Mal wie die sinkende Sonne durch nebliges, schweres Gewölk seine noch stets unvergleichliche, majestätische Liebenswürdigkeit hervor, dann pflegten diese Minuten zu den interessantesten zu gehören, die man auf dem weiten Boden des interessanten Frankreichs irgendwie verleben konnte. Wen der König anredete, durfte so lange frei reden, bis es ihm gefiel, eine andere Person dadurch auszuzeichnen, daß er sich an dieselbe wandte. Entstand eine Pause, so fingen die privilegirten Sprechmaschinen vom kleinen Lever auf eigene Hand an zu spielen. Mit einem Worte, diese Levers strebten ernstlich dahin, das feine, geistreiche, unvergleichliche China an den Strand der Seine zu verpflanzen und die Franzosen zu europäischen Chinesen zu bilden. Die Höflinge waren zu gelehrig, als daß sie nicht ihre chinesische Metamorphose hätten vollständig bewerkstelligen sollen.

Empfohlene Zitierweise:
Text von Adolph Görling: Stahlstich-Sammlung der vorzüglichsten Gemälde der Dresdener Gallerie. Verlag der Englischen Kunst-Anstalt von A. H. Payne, Leipzig und Dresden 1848−1851, Seite 604. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Stahlstich-Sammlung_der_vorz%C3%BCglichsten_Gem%C3%A4lde_der_Dresdener_Gallerie.pdf/621&oldid=- (Version vom 1.8.2018)