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ewige Lehre von der ewigen Liebe, und was er leidet, der schon wie verklärt blickende Dulder, ist das Leiden des Menschen. Während der Gottmensch, dem sich der Beschauer nicht zu substituiren vermag, jedenfalls allein leidet, obgleich man ihn anbetet: so können wir diesen „Jesus“ nicht sehen, ohne mit ihm zu leiden; denn er ist unser Bruder, ungeachtet des himmlischen Strahlenscheines um sein dornengekröntes Haupt.

Diese seine Auffassung hat Veronese mit ungemeiner Zartheit dargestellt, und seine Umstände zusammen beantworten die Frage nach der Ursache der sanften Wehmuth und des melancholischen Vergnügens, welche sein „Christus auf dem Wege nach Golgatha“ hervorbringt.

Dies Gemälde ist zwar in der Gruppirung bald etwas verwirrt componirt, besitzt aber dennoch große Schönheiten. So matt die heilige Veronika gerathen ist, welche Jesus das Schweißtuch vorhält, so ausgezeichnet ist der Mann in asiatischem Costüm, welcher sie abwehren will. In dem halbnackten Henker dürfte Veronese gezeigt haben, wie das Widerliche in der Kunst behandelt werden soll, um Recht zur Erscheinung zu erhalten. Eine Nebensache bemerken wir beiläufig: es ist der Kopf des gebundenen Missethäters im Hintergrunde links; Veronese hat nicht viele Köpfe von solcher charakteristischen Wahrheit aufzuweisen. Ein wieder ideal gehaltener Charakterkopf von unvergleichlichem Ausdrucke ist derjenige des Hohenpriesters, rechts neben dem eiskalten, Alles um sich her als überwundene Sclaven verachtenden Römers Pilatus. Die Mutter Jesu mit dem Johannes ist dagegen wieder vag-ideal aufgefaßt. Ueberhaupt bildet, wie gesagt, Jesus selbst das Moment, weshalb, neben der Pracht der Färbung, dies Gemälde ein sprechender Zeuge von Veronese’s Meisterschaft ist und bleiben wird.




Die Flucht nach Aegypten.
Von Claude Lorrain.

Niemand vermöchte sich des Eindrucks zu erwehren, den Claude Gelée, oder unter seinem bekannteren Namen, Claude Lorrain, durch seine Landschaftsdichtungen hervorruft. Ruisdael ist ein Meister in der Kunst, durch ein Landschaftsbild in dem Beschauer eine bestimmte Empfindung zu erwecken; nicht minder aber versteht es Claude Lorrain, die Natur künstlerisch zu einer Harmonie zu vereinigen, die gleich einem lyrischen Gedichte das Herz bewegt, nachdem sie das Auge, wie dies letztere das Ohr, ergötzt hat. Es ist die Idealität, getragen von der genial aufgefaßten und wiedergegebenen Naturwahrheit, welche bei Claude Lorrain diesen unbeschreiblichen Zauber der Landschaft bewirkt. Mit der höchsten Anmuth bekleidet, tritt uns in ihrer ewigen Jugendschönheit die Natur bei Lorrain entgegen. Ihre Reize sind in zwanglosester Weise in einen Brennpunkt vereinigt, dessen Strahl sicher auf den Beschauer wirkt.

Die „Flucht nach Aegypten“ ruft, gleich einem ebenso lieblichen als klaren und feierlichen Gedichte über den Gegenstand, alle die Träume jugendlicher Poesie wach, womit wir einst die

Empfohlene Zitierweise:
Text von Adolph Görling: Stahlstich-Sammlung der vorzüglichsten Gemälde der Dresdener Gallerie. Verlag der Englischen Kunst-Anstalt von A. H. Payne, Leipzig und Dresden 1848−1851, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Stahlstich-Sammlung_der_vorz%C3%BCglichsten_Gem%C3%A4lde_der_Dresdener_Gallerie.pdf/283&oldid=- (Version vom 1.8.2018)